von Story_Sisters
âIch bin streng, aber gerecht.â Mit diesen Worten hatte sich in der Hauptschule unser Klassenvorstand, Herr Walser, vorgestellt. Wie nicht nur ich spĂ€ter erkannte, hat vor allem die erste Aussage gestimmt.
SchĂŒler neigen dazu, das Handeln und die Entscheidungen von Lehrern als ungerecht zu empfinden. Doch auch heute noch finde ich (und bin dabei nicht die Einzige geblieben), dass Ernst Walser sich selbst unparteiischer gesehen hat, als er letztlich war. Bei einem Klassentreffen habe ich es ihm auch gesagt und zwei Beispiele dazu angefĂŒhrt. Er dachte offensichtlich eine Weile darĂŒber nach, ging aber nicht darauf ein.
Strenge konnte man ihm jedenfalls nicht absprechen. Wegen Kleinigkeiten, die andere Lehrpersonen mit einer Abmahnung durchgehen lieĂen, weil sie wirklich nur Peanuts waren, setzte es bei Walser empfindliche Strafen. Wurde man beim SchwĂ€tzen erwischt, musste man das groĂe Einmaleins gleich dreimal schreiben. Bei Schlimmerem wussten wir: Jetzt ist âDer fremde Bruderâ aus dem Lesebuch fĂ€llig. Das war eine elend lange Geschichte. Um sie abzuschreiben, war man geraume Zeit beschĂ€ftigt.
Unsere Klassensprecherin Julika war mit der Aufgabe betraut, alle SĂŒnderinnen zu notieren, die Walser nicht selbst ertappen konnte. Zum Beispiel mussten wir nach dem LĂ€uten bereits still sein und ruhig am Platz sitzen, noch bevor der Lehrer die Klasse ĂŒberhaupt betreten hatte. Auch die VerstöĂe und Strafen lieĂ der Lehrer sie auf den Notizblock nehmen. Kein angenehmes GefĂŒhl, eine Spionin in den eigenen Reihen zu haben, die sich selbst natĂŒrlich nie auf die Liste der ĂbeltĂ€terinnen setzte. Sie war auch nicht sehr beliebt bei uns MĂ€dchen.
Eines Morgens erwachte ich in aller FrĂŒhe, und ein gewaltiger Schreck ĂŒberfiel mich: Ich hatte meine Strafe nicht geschrieben! Ob es der Fremde Bruder war oder das groĂe Einmaleins, weiĂ ich nicht mehr. Sofort stand ich auf, schlich mich im Nachthemd in die KĂŒche und begann zu schreiben, so schnell es nur ging.
Doch unsere Mutter war eine FrĂŒhaufsteherin und ertappte mich natĂŒrlich. Als sie mich am Tisch sitzen sah, musste ich ihr reinen Wein einschenken.
âWofĂŒr hast du die Strafe bekommen?â â âIch weiĂ es nicht.â â âWarum weiĂt du es nicht? Ich glaube eher, du willst es mir nur nicht sagen!â
Aber ich wusste es wirklich nicht mehr. Rein gar nichts wollte mir einfallen, ich war mir keiner Schuld bewusst. Auf dem Schulweg erforschte ich GedÀchtnis und Gewissen, tappte aber weiterhin im Dunkeln. Irgendetwas kam mir bei der Sache seltsam vor. Deshalb ging ich zu Julika und fragte sie, weshalb ich gestern auf die Liste gekommen sei.
âWas willst du denn? Du hast doch gar keine Strafeâ, erwiderte sie verwundert. Es war nur ein schlechter, aber sehr reeller Traum gewesen. Die Seiten mit der Arbeit bewahrte ich jedenfalls sorgfĂ€ltig auf. Man weiĂ ja nie, ob es nicht doch einmal zu einer Strafaufgabe kommen wird. Dann konnte ich auf eine Reserve zurĂŒckgreifen,
(Iris)
Foto: Les Anderson â unsplash
© Story_Sisters 2021-04-16