von Franz Herzog
Das Versteck war gut getarnt. Von Disteln und StrĂ€uchern verwachsen, fĂŒhrte uns ein schmaler Pfad unter eine groĂe BrĂŒcke in Cochabamba, Bolivien. Wir kamen in Begleitung einer Sozialarbeiterin aus Polen, um eine Gruppe junger Leute, eigentlich noch Kinder, zu besuchen. Sie lebten unter dieser BrĂŒcke und empfingen uns etwas schĂŒchtern. Das MĂ€dchen, vielleicht vierzehn oder fĂŒnfzehn Jahre alt, hatte ein Baby auf dem Arm, das ruhig schlief. Die junge Mutter wurde bald gesprĂ€chiger und begann selbstbewusst mit einer FĂŒhrung durch ihren Haushalt.
âDas ist unser Schlafzimmerâ, sagte sie neben einem Verschlag aus schwarzen Plastikplanen. âUnd hier ist unsere KĂŒcheâ, betonte sie nicht ohne Stolz. Neben der Feuerstelle lag eine Schachtel mit GemĂŒse, ein StĂŒck Brot, ein paar Kekse und eine Wasserflasche. Alles schön aufgerĂ€umt. Den jungen Mann stellte sie als den Vater ihres Kindes vor. Er zeigte uns das Versteck in der BrĂŒckenkonstruktion, wo sie sich auf der Flucht vor der Polizei zurĂŒckziehen. âEs wĂ€re nicht das erste Mal, dass die Polizei unsere HĂŒtte und all unsere Sachen zerstörteâ, klagte der Bursche.
Ein weiteres Mitglied der wie eine Familie zusammen lebenden Gruppe, ein etwa elfjĂ€hriger Bub, blickte uns mit leeren, glasigen Augen an und hielt sich nur mĂŒhsam auf den Beinen. Es war der Klebstoff, der sein Hirn schon völlig vernebelte. Der Bub wollte uns zeigen, wie sie bei Gefahr ĂŒber einen Holzbalken ins Versteck gelangen konnten, doch er sank immer wieder kraftlos zurĂŒck. Das SchnĂŒffeln von Klebstoff hatte ihn sĂŒchtig und krank gemacht.
Die jungen Eltern des kleinen MĂ€dchens sind sich ihrer groĂen Verantwortung offensichtlich bewusst und wollen alles tun, um der Kleinen das Nötigste zu geben. âUnd was ist schon zum Leben unbedingt notwendigâ, fragte die Mutter. âIch bin nicht unglĂŒcklichâ, beharrte sie in einer Mischung aus Trotz und WĂŒrde. Ist es der Stolz der Hoffnungslosen? Hat diese Familie ĂŒberhaupt eine Chance, aus diesem Leben auszusteigen? Unsere Hilfe wird auch nicht lange reichen. Trotzdem bin ich ĂŒberzeugt, dass das Kind fĂŒr den Moment alles Lebenswichtige bekommt â die Liebe seiner Eltern.
Inzwischen wurde es dĂ€mmrig und wir sahen auf die groĂe beleuchtete Christusstatue von Cochabamba. Dieser Christus mit den ausgebreiteten Armen ist ihr tĂ€glicher Anblick und sie hoffen, dass er sie irgendwann aus dem Elend herausholen wird. Oder ist dieser Christus, der hier riesig und ĂŒbermĂ€chtig ĂŒber die Stadt wacht, nur fĂŒr die Reichen da? Und wenn schon: auch diese mĂŒssen ihren Beitrag leisten, wenn tagsĂŒber die âStraĂenkinderâ sich mit Schuhe putzen und kleinen DiebstĂ€hlen durchs Leben schlagen.
Zum Abschied spĂŒrte ich noch einmal, wie uns dieses junge MĂ€dchen ihr bescheidenes GlĂŒck so selbstverstĂ€ndlich vermittelte, auch angesichts solch extremer LebensverhĂ€ltnisse. Unser Besuch liegt nun 24 Jahre zurĂŒck und ich denke oft daran in der Hoffnung, dass sie es geschafft haben.
© Franz Herzog 2020-07-11