Stummer Schrei (erstickt)

Mirja-Valentina Heblich

von Mirja-Valentina Heblich

Story

Ihre Finger zittern. Sie reden darüber, wohin sie in den Urlaub fahren. Bald sind Ferien. Sie sitzt auf ihrem Stuhl und bekommt keine Luft mehr. Österreich. Italien. Spanien. USA. Jeder fliegt mit seiner Familie irgendwohin. Sie werden Spaß haben dort. Sie werden lachen. Sie werden mit ihrer Familie frühstücken. Fotos machen. Schoppen gehen. Glücklich sein. Jeder einzelne wird glücklich sein. Die Vorfreude auf die Ferien ist groß. Nur sie bleibt stumm.

Sie fürchtet sich vor den Ferien. Sie will nicht nach Hause. Sie will nicht mit ihrer Familie essen. Reden. Zu viel verlangt. Zu viel Anstrengung ihnen in die Augen zu sehen, die sie verschließen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht liegt es an ihr. Sie weiß nicht, was ihr geschieht. Vielleicht irrt sie sich. Aber das Gefühl bleibt.

Und sie schluckt. Sie schaut in ihre Gesichter und erkennt sich darin nicht wieder. Sie würde so gern einmal Zuhause sein, aber sie will nicht nach Hause. Sie sagt, sie hat länger Schule. Sie streift durch die Stadt, aber ihr geht es nicht gut. Sie weiß, sie muss nach Hause. Und sie geht, jeden Tag, und jeden Tag versucht sie es hinauszuzögern. Sie versucht es. Sie läuft durch die Menschenmassen. Treibt mit dem Strom. So unendlich allein. Und sie denkt, dass jemand es bemerken müsste. Sie schreit nach Hilfe in ihrer Schweigsamkeit.

Die Stille ist scharf. Ein Messer auf der Zunge. Jedes Wort bringt sie zum Bluten. Zu schweigen tut weh, aber sprechen reißt die Wunde auf.

Sie atmet tief ein. Tief aus. Und sie will sich ändern. Sie will ihn ändern. Alles ändern. Anders leben. Anders denken. Anders handeln.

Die Gesprächsfetzen dringen zu ihr hindurch wie durch Knete. Sie hat ihre Ausrede geformt. In ihrem Kopf Gestalt angenommen. Auf der Zunge. Erhärtet durch Erfahrung. Jeden Tag neue Knete. Und jeden Tag neue Tränen. Sie ertrinkt in Schuldgefühlen, die nicht ihr gehören. Entschuldigungen suchen, Verachtung finden.

Jeden Tag. Und sie hält es nicht mehr aus. Sie springt von ihrem Stuhl auf. Die anderen riskieren einen Blick. Wenden sich ab. Zu viel gewollt. Zu wenig bekommen.

Träume wie zu große Brocken.

Sie erstickt an ihnen.

Sie geht unter.

Und sie rennt.

Nach draußen. Weg.

© Mirja-Valentina Heblich 2022-07-17

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