Stummtaste

Elisabeth Weinkamer

von Elisabeth Weinkamer

Story

. . . shake away, shake away the old chains in my life . . .

Sie sitzt da, mit Kopfhörern ĂŒber den Ohren, die Musik so laut, dass auch ihr Sitznachbar sie noch hören kann. Hören könnte.

Aber der hat ja selbst welche auf.


„Die Menschen können heute nicht mehr mit sich allein sein.“

Wie meinst du?

„So, wie ich es sage. Schau genau hin. Jetzt siehst du es, oder?“


Der Wartende am Bahnsteig. Der Einzige, der im Moment zu Hause ist. Nie allein.

Ein laufendes Radio, dröhnende Kopfhörer.

Wenig Möglichkeit, in sich hineinzuhören.

Sich selbst kennenzulernen.

Besser.

Im Bus sitzen, in der Bahn stehen – immer heimwĂ€rts. Oder nach auswĂ€rts.

Die Musik ĂŒbertönt es.

Alles.

Macht es leichter. Macht sie leiser.

Die Gedanken, die Zweifel, die TrÀume, die Ideen.

Macht es schwieriger. Sich selbst zu verstehen, auf sich zu hören.


Den Blick auf das Handy geheftet sitzt sie da, ohne aufzublicken.

Nur warten und hören und schauen.

Das GesprÀch zu sich selbst auf stumm geschaltet.

Sie wird warten. Bis ihr ZeitgefĂŒhl ihr sagt, dass ihre Haltestelle die nĂ€chste ist.

Sie wird hören. Die Lieder der Charts und ihre eigene Playlist.

Sie wird schauen. Was ihre Freunde Neues gepostet haben, was ihre Lieblingsband seit gestern so gemacht hat und, ob der Schnee in Finnland immer noch fÀllt.

Allein mit sich selbst?

Sinnieren, grĂŒbeln, sich besinnen. Besinnliche Weihnachten.


Ich werde an der Bushaltestelle stehen. Ich und die anderen Menschen.

Mit einigen Metern Abstand. Ein Mensch. Eine Pause. Ein Mensch.

Unter ihren WollmĂŒtzen werden die Kabel herausragen und in der Manteltasche wieder verschwinden.

Mein Handy in eben jener. Ohne Kabel. Ein Versuch.

Nachdenken ĂŒber Gestern, ĂŒber Heute und darĂŒber, was morgen vielleicht sein kann.

Ich werde zum Friedhof fahren. Mit dem Bus. Mit mir allein.

Bei unserem Familiengrab stehen zwei BĂ€ume.

Zwei kahle StĂ€mme, die hoch in den Himmel ragen und bis weit hin zur Spitze keine Äste tragen.

Dieses Jahr ist ein einzelner neuer Ast gewachsen. Auf Kopfhöhe.

Auf den ersten Blick, fehl am Platz. Als ob man den Baum mit einem gezielten Schnitt wieder in seine Ursprungsform zurĂŒckbringen könnte.

Auf den zweiten Blick ist es anders.

Er lÀsst sich nicht abschneiden. Nicht mehr.

Die Gedanken, die Zweifel, die TrÀume, die Ideen.

Ist der Wunsch einmal geboren, der Zweifel einmal da, ist es nicht mehr so einfach, ihn zu ĂŒberhören und zu ĂŒbertönen.

Zulassen, die Gedanken, die Zweifel, die TrÀume und Ideen.

In der Stille. Manchmal.

Ich werde zum Friedhof fahren.

Und der kleine Ast voller bunter Kugeln.

© Elisabeth Weinkamer 2019-12-01

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