Stunde der Wahrheit

Maria Oberhammer

von Maria Oberhammer

Story

Zufällig war es genau unser 17. Hochzeitstag, an dem mir ein schwieriges Gespräch bevorstand. Ich wollte meinen Kindern sagen, dass ich mich von ihrem Vater trennen würde. Die Angst vor jenem Gespräch und noch mehr vor dessen Konsequenz, hatte mich den finalen Schritt zur Trennung jahrelang aufschieben lassen. Meine Kinder sollten vom Leid einer Scheidung verschont bleiben. Ich wollte ihnen niemals wehtun.

Also hatten wir uns arrangiert, um der Kinder wegen unser Ehe-Konstrukt aufrecht zu erhalten. So wie tausende Paare das wohl tun, auch wenn sie irgendwann spüren, dass trotz aller Bemühungen eine glückliche und erfüllende Liebe zwischen ihnen nicht mehr möglich ist.

Der Haken dabei: Kinder haben sehr feine Antennen. Ob ihnen auffällt, dass die Blicke der Eltern leer sind, wenn sie einander ansehen? Dass sie sich nicht mehr liebevoll berühren? Dass sie sich keine Zeit mehr füreinander nehmen? Dass sie nur mehr miteinander reden, wenn es um die Organisation des Alltags geht? Vielleicht würden meine Kinder einmal denken, dass so eine lieblose Ehe normal wäre? Das wollte ich auf keinen Fall. Nach vielen inneren Kämpfen hatte ich schließlich den Entschluss gefasst, ihnen die Wahrheit zuzumuten.

„Ich muss mit euch reden“, eröffnete ich mit zentnerschwerem Herzen unsere kleine Versammlung im Wohnzimmer: „Papa und ich werden uns trennen. Wir haben euch sehr lieb und bleiben für immer eure Eltern, aber wir werden nicht mehr zusammen wohnen. Ich habe ein paar Häuser weiter eine Wohnung für uns gefunden, das heißt, ihr könnt Papa so oft besuchen, wie ihr wollt, eure Freunde aus der Nachbarschaft behalten und in der gleichen Schule bleiben.“

Die Jüngste, die auf meinem Schoß saß, wusste noch nicht viel mit dieser Information anzufangen. Meine älteren Söhne hingegen ahnten sehr wohl, was das bedeutete. Schweigen. Stille Tränen. Ein langer, leiser und sehr trauriger Moment. Kein Wort der Beschönigung, kein Wort der Ablenkung. Jedes einzelne Wort wäre zu viel gewesen. Doch da war noch etwas anderes, das auf einmal auftauchte: ein befreiendes Gefühl von Wahrhaftigkeit!

Langsam fand ich meine Stimme wieder: „Wir können uns die Wohnung morgen gemeinsam ansehen, wenn ihr wollt. Es braucht nur mehr ein paar Möbel. Wollt ihr mir mit dem Einrichten helfen? “ Vielleicht vermochte dieser Ausblick ihren Schmerz ein klein wenig zu lindern. Und wirklich: Sie fingen bald an, Pläne für ihre zukünftigen Zimmer zu schmieden und berichteten ihren Freunden davon.

Es war am Abend des gleichen Tages, als ich mich plötzlich mit einer zusätzlichen, ganz neuen Herausforderung konfrontiert sah. Mir schien es fast so, als ob der mit den Kindern erlebte Moment der Wahrheit meinen Blick geschärft hätte.

Denn diesmal machte er sich klar und deutlich im Badezimmerspiegel bemerkbar, nicht mehr schemenhaft wie ein paar Wochen zuvor. Und ich schaute ganz genau hin. Auf ihn, den hervortretenden Knoten an der Unterseite meiner Brust.

© Maria Oberhammer 2020-09-29

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