Sturmschaden

Karl Ebinger

von Karl Ebinger

Story
Wien 2023




Ich hatte unlängst ein sehr kurioses Erlebnis, das mich herausforderte und zum Denken anregte. Manchmal stellt mich das Leben vor Aufgaben, die ich mir nicht selbst ausgesucht habe, die ich jedoch annehme, um neue Erfahrungen zu sammeln.

Es begann alles recht unscheinbar. Eines Nachts gab es ein stärkeres Gewitter mit heftigen Sturmböen. Am nächsten Morgen ging ich rund ums Haus. Alles schien in Ordnung zu sein, nur einige Zweige von meiner Linde waren abgebrochen.

Ich sammelte die Zweige und brachte sie zur Biotonne. Am Rückweg durch meinen Vorgarten bemerkte ich im Gras, gleich neben einem hüfthohen Zaun, einen verkleinerten Dachziegel. Verkleinert deswegen, weil am Rand des Daches, wo sich die Verblechung befindet, oft keine ganze Breite an Dachziegel hineinpasst. In diesem Fall war es ein Dachziegel mit einem Drittel der üblichen Breite. Der Sturm hatte offenbar sein Werk getan und den kleinen Dachziegel aus der Verankerung gerissen.

Ich staunte, dass der Ziegel bei seinem Sturz aus etwa zehn Meter Höhe nicht zerbrochen war. Außerdem war es bemerkenswert, dass ich den gut versteckten Ziegel überhaupt gefunden hatte. Mein Unternehmergeist war geweckt. Ich fragte mich, wo dieses kleine Teil am Dach fehlen würde.

Ich ging auf den Dachboden zu meinem Dachfenster und suchte den Rand des Daches ab, der der Absturzstelle am nächsten gelegen war – Fehlanzeige, alles in Ordnung. Als Nächstes schaute ich in Richtung Dachspitz, der wie eine große Dachgaube ausgeführt ist. Dort schien etwas zu fehlen. Ich holte meinen Feldstecher, um sicherzugehen und siehe da, die Stelle war gefunden. Das Problem war nur, dass die Stelle für mich völlig unzugänglich war. Ich kann zwar mit einer Steigleiter gefahrlos auf mein Hauptdach steigen, doch von dort waren es noch drei Meter zu der Stelle auf der Gaube.

Mein Hirn ratterte, welche Möglichkeiten habe ich? Ich brauche eine Verlängerung. Ja, ich habe eine vier Meter lange Holzstange, die ich benütze, um meine Dachrinnen im Herbst vom Laub zu befreien. Dort würde ich den gedrittelten Dachziegel mit einer Schnur befestigen und zu der besagten Stelle bringen. Es brauchte drei Versuche, um den Ziegel zur leeren Stelle zu heben und fachgerecht in Position zu bringen. Zufrieden blickte ich auf mein Dach und genoss das Glücksgefühl, die Aufgabe bravourös gemeistert zu haben.


© Karl Ebinger 2023-09-02

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Inspirierend