Suchbild: Chaos

Lilienweiss

von Lilienweiss

Story

Ich sitze auf meinem Bürostuhl und starre den Bildschirm an. Mein Schreibtisch spiegelt genau mein Gemütszustand wider: chaotisch, unstrukturiert und dreckig. Leere Joghurtbecher, gebrauchte Taschentücher, schmutziges Geschirr, Bierflaschen und Tabak erstrecken sich über die gesamte Fläche des Schreibtisches. Unter dem zweiten Bildschirm sind verschiedene Nagellackfläschchen verstreut, dazu gesellen sich Hustenlöser-Dragees und ein defektes Handy. Es sieht aus wie eine Szene aus einem Suchbild, in dem man nach dem Willi suchen soll. Und hier sitze ich mittendrin, mit einer dicken Depression, an diesem letzten Tag des Schreibwettbewerbs. Obwohl ausreichend Zeit vorhanden war, finde ich mich aufgrund meiner Prokrastination hier wieder und versuche verzweifelt, meine Gedanken zu ordnen. Meine Gedanken sind hoffnungslose Sätze, die in meinem Kopf kreisen: „Ich bin nicht gut genug“ und „Ich werde im Leben niemals Erfolg haben“. Dann gibt es noch dieses tiefe Gefühl, für immer im Bett liegen bleiben zu wollen, ohne je wieder aufzuwachen. Ich bin nicht nur eine Meisterin der Prokrastination, sondern auch darin, mir selbst Steine in den Weg zu legen. Das ermöglicht es mir anschließend, mir einzureden, dass ich es sowieso nicht schaffen werde und zu nichts tauglich bin. Es ist schon lange her, dass ich mir gewünscht habe, jemand anderes zu sein. Aber heute – heute sehne ich mich danach, besonders stark. Ich wünschte, ich könnte Dinge zu Ende bringen, morgens voller Enthusiasmus aus dem Bett springen und die Freude am Leben spüren. Stattdessen bemitleide ich mich selbst, ziehe mich herunter und vergeude meine Lebenszeit. Es sei denn, ich treffe Menschen, die genauso negativ sind wie ich oder noch negativer, dann finde ich mich plötzlich darin wieder, ihnen Ratschläge für ein erfülltes Leben zu geben und die Vorzüge von Lebensfreude anzupreisen.

Ich weiß, dass diese Phase der Depression bald vorüberziehen wird, so wie die Wolken am Himmel. Ich weiß, dass es einen Auslöser für diese Depression gab und dass ich sie bald wieder verabschieden kann. Doch momentan weiß ich nicht, wie und wann sie enden wird. Kein einziger positiver Gedanke findet sich in meinem Kopf, kein Moment des Glücks, an dem ich mich festhalten könnte. Obwohl, das ist nicht ganz wahr, es gab tatsächlich einen Moment des Glücks vor nur einer Woche. Doch selbst dieser Moment erscheint mir nun unerreichbar fern. Meine Depression ist so überwältigend, dass all diese glücklichen Momente verschwinden und nur eine Leere und ein Klumpen in meiner Kehle zurückbleiben. Es ist, als hätte ein Vampir all meine Lebensfreude statt Blut ausgesaugt. Ich bin eine menschliche Hülle, die vor sich hin vegetiert. Meine Therapeutin würde diesen Zustand als normal bezeichnen, angesichts meiner belastenden Kindheit, die von Missbrauch und extremer emotionaler Verwahrlosung geprägt war. Es kann passieren, dass man an manchen Tagen in eine tiefe Depression fällt. Aber ich möchte nicht darin verharren, ich möchte endlich mein Leben „geschissen bekommen“ und nicht länger meine – ach so traurige – Kindheit als Ausrede verwenden.

© Lilienweiss 2023-08-31

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Dunkel, Emotional, Traurig, Angespannt
Hashtags