von Sharamaria
Ich heiße Susi. Man nennt mich auch „das frechste Hühnchen“. Ich bin die Kleinste, aber meine Eier sind die größten.
Ich bin eine Hybrid-Henne. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Ich war zusammen mit hunderten in einer Halle eingesperrt, das nennen sie „Bodenhaltung“. Da war es so laut. Wir legten Eier, jeden Tag eines, vierzehn Monate lang, das ist ganz schön anstrengend. Oft haben wir uns gestritten, auch gekämpft, uns gegenseitig gepickt, Federn ausgerupft.
Eines Tages kam eine Frau in unsere Halle. Sie zeigte auf mich und sagte: „Die will ich mitnehmen.“ Unsere Besitzerin fragte mit Blick auf meine zerrupften Federn, meinen nackten Hals, meinen kahlen Kopf: „Wollen Sie nicht eine schönere nehmen?“ Doch gerade ich sollte es sein. Noch eine zweite nahm sie mit. Wir kamen in ein kleines Häuschen, da waren noch drei andere, nur drei. Ich hatte Angst, es war so leise, es war so kalt ohne die vielen hundert anderen.
Dann gab es Kämpfe, bis jedem klar war, diese Luise bleibt die Chefin. Große Chancen hatten wir ohnehin nicht – Luise war schwerer als wir beide zusammen.
Meine Kollegin Mathilde und ich, wir hatten viel zu lernen. Die anderen scharrten im Laub, im Gras, das hatten wir noch nie getan, aber uns nach einer Weile abgeguckt. Würmer, Käfer, Schnecken – köstlich! Nie zuvor habe ich so etwas gegessen!
Das Trinken war anfangs auch ein Problem, wir kannten ja nur diese Tränken, wo man unten hinpickt und dann Wasser rauskommt. Hier gab es Wasser in einer Schüssel, nie zuvor gesehen, das Trinken wollte ganz neu gelernt werden: Schnabel eintauchen, Kopf zurücklegen, Wasser rinnt die Kehle hinunter. Zum Glück haben es uns die anderen vorgemacht.
Meine Federn – kaum zu glauben – die wuchsen wirklich noch einmal nach! Am Hals und auch am Bauch und auf dem Kopf. Ich wurde ein wirklich hübsches Hühnchen.
Ich hatte plötzlich ein Leben, ein unfassbar schönes Leben. Alles konnte ich tun, was ein Hühnchen tun will. Alles war da, was ein Hühnerherz nur begehrt. Eierlegen, natürlich, das habe ich weiterhin getan. Aber so leckeres Essen gab es, Körner und Schrot in der Schüssel, Maiskörner, Salatreste, gekochte Erdäpfel, Topfen – wir haben uns darauf gestürzt. Sandbaden, so herrlich! Die Sonne meine Federn wärmen lassen. Gras picken. Scharren.Und am Abend ins Häuschen, über die Leiter auf die Stange und schlafen, in aller Ruhe.
Aber ich bin eine Hybrid-Henne. Ich habe keine hohe Lebenserwartung. Meine Gesundheit ist mir weggezüchtet worden. Den Menschen ist das egal. Wir legen vierzehn Monate oder so (fast) jeden Tag ein Ei, und wenn unser Körper endlich eine Pause braucht, dann werden wir ersetzt, und neue kommen, jüngere.
Auch ich wurde nicht alt, keine drei Jahre bin ich geworden, aber fast mein halbes Leben war schön.
Da gibt es Leute, die sagen zu der Frau, die uns geholt hat: Zwei Hühner von tausenden, das ist ja gar nichts, das macht keinen Unterschied. Aber für mich hat es wohl einen Unterschied gemacht.
© Sharamaria 2021-05-23