Swing(erin)

thestorycurator

von thestorycurator

Story

Montag. Ich sitze mir im Büro die Beine ins Kreuz und antworte auf den Schwall E-Mails, der nie abreißt und zu einer dicken Brühe an To-Dos verschmilzt. Ich bin noch verkatert vom Wochenende – nicht hungover sondern swungover – übertanzt und ausgetanzt und an diesem Montag trotzdem untertanzt. Das Sitzen ist pure Folter. In mir schwingt noch immer der Swing. Mein innerlicher Soundtrack passt nicht zum seriösen Business-Alltag. Mein Hirn ist noch high, will die Glücksmomente mit aller Kraft festhalten, weil sie wie immer zu schnell zu Erinnerungen werden.

Prag. Mein Lieblings-Swing-Festival.

Ich fühlte mich wie Alice, die ins Wunderland purzelt. Plötzlich waren da Menschen, die sich nicht aufgrund ihrer gemeinsamen Feinde zusammenfinden, sondern wegen ihres gemeinsamen Interesses. Plötzlich hörte man überall Ella Fitzgerald und Luis Armstrong. Plötzlich war sich zu bewegen der Usus und es nicht zu tun die Ausnahme. Plötzlich war nichts mehr wichtig außer der Moment. Kein Handy, keine Ablenkung, keine Außenwelt. Nur die Musik und die Bewegung und manchmal ein(e) Partner(in). Ich tanzte fast alles (von den gängigsten Formen – Lindy Hop, Balboa, Shag, Solo – bis zu den verschiedensten Rollen – Lead, die Rolle die führt, und Follow, die Rolle die folgt) und alles mit Begeisterung. Prag war mein zwölftes Festival dieses Jahr. Die Party am Freitag war in einem riesigen Ballsaal. Ich tanzte sieben Stunden durch, tanzte mit Freunden aus Berlin und Melbourne, tanzte bis ich Blasen auf den Füßen hatte und anstatt aufzuhören, tanzte ich barfuß weiter. Um sechs Uhr früh konnte ich kaum noch stehen, ging durch die Stadt und atmete die kalte September-Luft ein. Es regnete. Die Tropfen wuschen meine Erschöpfung weg. Vier Stunden später stand ich im Kurs. Eine alte Fabrikshalle voll mit Tänzern, die besser werden wollen, die Dinge neu lernen, nur um sie am abendlichen Tanzparkett ausprobieren. Ich versuchte mich an allem und an fast allen.

Und dann war da plötzlich L.

Ich hatte sie schon seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Sie überraschte mich mit einer Umarmung von hinten, wiegte mich in den Tanz wie es Verliebte tun. Wie als wäre keine Sekunde vergangen fanden wir zueinander. Wir tanzten in der kleinen Bar bei der After Party. Manchmal führte sie, manchmal ich, wir kreierten ein Mandala aus Schritten, das nur für uns spürbar und von Wert war. Sie und ich und ein endloses Gespräch aus Bewegung, bei dem Worte vollkommen überflüssig waren. Zwei Tage lang lachten wir und weinten wir vor Lachen und hielten uns an den Händen und gegenseitig aufrecht. Ein Kauderwelsch aus Ausdrucksformen. Ein langsames Lied. L. zog mich an sich heran und ich verlor mich in ihr, schloss die Augen. Wir bewegten uns in purer Harmonie wie Wellen im Meer. Keine Ecken, keine Kanten. Kein Anfang, kein Ende. Überschwappen von purem Glück. Deswegen fällt mir der Montag schwer. Er wirkt wie eine Farce. Unwichtig. Heute fühle ich nichts. Gestern fühlte ich alles.

© thestorycurator 2020-09-22

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