Sylt, 1973

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Eigenartig verschwommen sind meine Erinnerungen an die Maturareise.

Schon bei der Wahl des Reiseziels gab es Konflikte zwischen zwei Professorinnen. Die Huber (Mathematik/Physik) und die Stefflbauer (Deutsch/Englisch) waren nicht gerade ein Herz und eine Seele. Beide versuchten mit flammenden Reden, uns das von ihnen präferierte Reiseziel schmackhaft zu machen. Wir wären ja gern mit der Huber nach Istanbul geflogen, aber als das der Stefflbauer zu Ohren kam, machte sie uns einen Strich durch die Rechnung. Es war klar. Diese Kränkung war unserem Klassenvorstand nicht zuzumuten.

Kurz und gut, wir fuhren mit der Steffi nach Sylt.

Heute wären manche Praktiken, die bei uns gang und gäbe waren, undenkbar, z. B. diese: Vor Reiseantritt diktierte uns die Steffi ein Dokument, das wir von den Erziehungsberechtigten unterschreiben lassen mussten. Es besagte, dass unsere Eltern für unser Verhalten (wahrscheinlich meinte sie Fehl-Verhalten) Verantwortung übernehmen würden. Meine Mutter war die Einzige, die sich weigerte, Derartiges zu unterschreiben. Ich sei alt genug, meinte sie, mit 18 brauche man kein Kindermädchen mehr. Jetzt, im Nachhinein, bin ich stolz auf meine Mutter, dass sie sich widersetzt hat.

Also, sagte die Steffi, dann muss dich eine von der Klasse unter ihre Fittiche nehmen. Die Wögerer-Evi unterschrieb widerwillig den Wisch, ausgerechnet die Wögerer-Evi, die es mit dem Gehorsam nicht so genau nahm.

Unser erster Zwischenstopp war Hamburg. Keine von uns hätte es der Steffi, die etwas Altjungferliches an sich hatte, zugetraut, dass sie uns zum Kiez lotsen würde. Aber so war es. Eine Phalanx von 30 drallen Linzer Dirndln marschierte Hamburgs „Geile Meile“ entlang, voran unser Feldwebel. Spärlich bekleidete Damen, die ihre Brüste durch die offenen Fenster schupften, begafften uns. Nach dieser Sehenswürdigkeit ging’s weiter zur größten nordfriesischen Insel.

Ich war froh, in Wögerer-Evis Clique zu sein. Verschwommene Bilder tauchen auf von Gelagen in Sanddünen, mit einem Kellner, der uns mit Alkohol versorgte und den wir den „g’schupften Ferdl“ nannten, vielleicht wegen seiner gelb-grün gestreiften Socken. Ich hatte damals von diesem Chanson, das den Bronner in den 1950er-Jahren berühmt gemacht hatte, jedoch keine Ahnung.

Genau genommen, ich hatte von nichts eine Ahnung. Auch nicht, dass es bei Sturmwarnung verboten war, ins Wasser zu gehen. Völlig unbekümmert warf ich mich mit zwei anderen in die Fluten. Wir wurden ins offene Meer geschwemmt, und mannshohe Wellen schlugen über meinem Kopf zusammen. Evi, schrie ich aus Leibeskräften. Doch tosender Lärm schluckte meine verzweifelten Rufe. Ich ruderte mit den Armen, schnappte nach Luft.

So wie in der griechischen Mythologie, in der das Meer Aphrodite, die Schaumgeborene, ans Ufer trug, war es nicht. Wir erreichten den Strand, zernepft und abgekämpft. Eine Menschentraube hatte sich gebildet. Und Steffi hielt eine Standpauke.

© Sonja M. Winkler 2021-02-06

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