Tacheles reden

Spiesserpunk

von Spiesserpunk

Story

Eine warme Sommerbrise strich zärtlich über mein Gesicht, als ich das kühle Treppenhaus des Altbaus in der Oranienburger Straße verließ. Exotische Gerüche wehten vom indischen Restaurant direkt neben mir verführerisch zu mir herüber. Unschlüssig stand ich noch etwas verloren herum, während mein Kopf zu ergründen versuchte, wie ich mich eigentlich gerade fühlte. Fühlen sollte. Fühlen wollte. Das tat er gern zu dieser Zeit, mein Kopf. Er verwirrte und entwirrte und zurrte und zerwarf Hunderte von Gedankenschnipseln. Mit Vorliebe ließ er diese Schnipsel sich munter verknotend tagein und tagaus in meinem Kopf Karussell fahren. Aus diesem Grund war ich nun also hier in der Oranienburger Straße gelandet. In der ersten Therapiestunde meines Lebens. Mein Herz hatte wild geklopft, als ich die knarrenden Treppen mit dem roten Teppich erklommen hatte. In dem hellen Warteraum mit zartblau gestrichenen Wänden war ich immer nervöser geworden bis meine Therapeutin mich schließlich freundlich lächelnd abgeholt hatte. Ich hatte den längst überfälligen Schritt also endlich gewagt. Und nun stand ich hier an diesem warmen Augusttag und beobachtete Tourist*innen, die in allen möglichen Sprachen lachend umherspazierten, sah den Kellner*innen des indischen Restaurants dabei zu, wie sie flink von Tisch zu Tisch eilten und beobachtete den träge fließenden Mittagsverkehr auf der Straße.

Lange war es her, seit ich zum letzten Mal die Oranienburger Straße besucht hatte. Längst gab es das besetzte Kunsthaus Tacheles, das einst für den Aufbruch und die Subkultur eines sich neu findenden Berlins gestanden hatte, so nicht mehr. Ein Hauch von Nostalgie und Wehmut nach diesen Zeiten – als gefühlt alles möglich schien – machte sich in mir breit. Und dennoch wurde mir an diesem schönen Sommertag klar, dass weder Berlin noch ich uns ewig an alten Sehnsüchten festklammern konnten.

Der Sommer ging, der Winter kam und pünktlich zum Frühlingsbeginn begann es schließlich auch in meinem Innersten endlich wieder aufzuklaren. Gedanklich nickte ich dem Tacheles-Gebäude jedes Mal verschwörerisch zu, wenn ich nach meiner Therapiesitzung zu ihm rüber schaute. Die Redewendung „Tacheles reden“ ist übrigens die jiddische Bezeichnung für „Klartext reden“ und erst beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir auf, wie gut das damals im Kontext meiner Verhaltenstherapie gepasst hat.

Vielleicht bin ich in Berlin hängengeblieben, weil die Stadt und ich so harmonisch unvollkommen sind. Beide haben wir Risse und unsere ganz eigenen Geschichten, aber genau das ist es wahrscheinlich auch, warum wir bis heute so gut zueinander passen. So ist sie eben, diese Stadt, die so voller Widersprüche steckt, sich immer wieder gewandelt und ausgedehnt hat, aber am Ende eben auch für Menschen wie mich der Ort ist, an dem man ankommen und einfach sein kann. Auf deine ganz eigene Art hast du mich am Ende geheilt, Berlin.

© Spiesserpunk 2022-03-30

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