Tag 6 – Retraumatisierung am Bildschirm

Regina Gräbner

von Regina Gräbner

Story

Was für ein Geschenk. Laptop auf. Mit der Welt verbunden sein. Vorausgesetzt WLAN funktioniert. Und der Sturm hält sich in Grenzen. Hier in der Bretagne, ganz im Westen. Den offenen Atlantik vor der Haustüre.

Webinars besuchen. Vorträge anhören. Kontakt per Zoom. Meine Kinder per Skype sehen und hören. Coachingausbildung 1. Teil online, Bewerbungsgespräche führen.

Ein unglaubliches Feld an Möglichkeiten. Tägliche Einladungen. Angebote. Eine oft unerträgliche Fülle.

Ich war und bin darüber sehr dankbar. Es liegt an mir wie ich damit umgehe.

Doch da entstand ganz langsam diese Grenze.

Persönliche Begegnungen per Bildschirm. Ein jäher Moment, wo es auf einmal so weh tat. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind und wollte in den Bildschirm hinein kriechen, fühlen, fassen, berühren, riechen, schmecken. Mit allen Sinnen die Begegnung wahrnehmen können.

Nach der Begegnung kroch es in mir hervor. Immer öfters. Ein ganz tiefer alter Schmerz. Eine furchtbare Sehnsucht. Heimweh. Kaum in Worte zu fassen.

Es war hier in der Bretagne Zeit. Die Phase des Lockdowns. Viele Gefühle waren sowieso schon aktiviert.

Eine Zooveranstaltung mit meinen Ausbildern, damals noch ein Ehepaar, brachte das Fass zum Überlaufen.

Meine Eltern hinter Glas. Unerreichbar. Zwei Wochen. Für ein zweijähriges Kind wie eine Ewigkeit.

Auf der Infektionsstation musste ich liegen. Wegen einer schweren Lungenentzündung, verbunden mit Masern. Ich erinnere mich nur an ein Bild. Meine Eltern stehen hinter der Glastüre und ich strecke verzweifelt meine Hände nach ihnen aus. Als tief verstörtes Kind kam ich zurück. So erzählte mir meine Mutter später.

Heute weiß ich, warum ich als Hebamme so sehr dafür gekämpft habe, dass eine Mutter bei ihrem Kind aufgenommen werden kann. Alles dafür getan habe. Ja, ich habe unbewusst nochmal um mein eigenes Kind gekämpft.

1970 und 1971 wurde ich zweimal für 6 Wochen in die Fremde geschickt. Zur sogenannten Erholungskur für Kinder. Wegen Asthma. Unglaublich.

Es war Mode, Kinder zu verschicken.

Auch dort wieder die Erfahrung mit Glas. Diesmal die Zugfenster. Die Trennung. Die Endgültigkeit, als die Türen zufielen und der Zug sich in Bewegung setzte. 6 Wochen für ein 6-jähriges Kind eine Ewigkeit. Und mit 7 Jahren musste ich dies nochmal erfahren.

Das Leid war unendlich. Auch Todesangst ist mir bekannt.

Der Bildschirm. Die Begegnung mit mir lieben Menschen löste in mir eine Retraumatisierung aus.

Mir war in dieser Heftigkeit klar, wenn ich wieder in Deutschland bin, werde ich eine Traumatherapie machen. Die Zeit war reif. So was von überreif.

Über 50 Jahre habe ich dies schweigend in mir getragen. Wie Millionenn andere Kinder. Die Erwachsenen wollten davon nicht hören. Auch Freunde konnten mit diesen Themen wenig anfangen.

Doch das Trauma hat sich tief in meine Zellen gebrannt. Oder eher eingefroren. Es klopfte an. Es wollte endlich gefühlt werden. Nun war ich stark genug.

Es taut auf. Ganz langsam löst es sich aus meinen Zellen.

© Regina Gräbner 2022-12-04

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