Tage des Schriftstellers: Schreib-Rituale

Kreative-Schreibwelt

von Kreative-Schreibwelt

Story

Ich war überzeugt, dass heute der Tag war, an dem ich im Schreib-Flow versank. Endlich. Deshalb begann ich mit meinem ultimativen Ritual: Zuerst legte ich penibel genau denselben Kugelschreiber neben mein Laptop wie sonst immer. Kein anderer durfte zum Einsatz kommen – das war heilig.

Dann nahm ich meine »Glücks«-Tasse. Sie war blau mit gelben Punkten und trug den Aufdruck »Wortzauberer«. Nur dieser Becher brachte den Koffeinschub, den mein Hirn brauchte. Jeden anderen Becher verweigerte ich.

Bevor ich mich setzte, ging ich dreimal um den Schreibtisch herum – links, rechts, links –, um den »Energiefluss« zu aktivieren. Ich hatte gehört, dass Hemingway dreimal um seine Schreibmaschine tanzte. Oder so ähnlich.

Ernest beobachtete mich reglos vom Fensterbrett. »Funktioniert das wirklich, oder bin ich nur bekloppt?«, fragte ich ihn beiläufig. Er schwieg, was ich als stummes Urteil wertete.

Endlich setzte ich mich, öffnete das Dokument und tippte den ersten Satz: »Der Regen prasselte …« Brummel! Mein Magen knurrte. Ich verweigerte eine Pause, denn mein Ritual sah vor, dass ich erst nach genau 1.000 Wörtern essen durfte.

Dreißig Minuten später schlich ich dann doch in die Küche – wider besseres Ritualwissen –, weil ich sonst verhungerte. Dabei ließ ich die Tasse fallen. Sie zerbrach in zwei Hälften. Mein Herz setzte aus.

Ich starrte die Scherben an, als wäre ich Zeuge eines Unglücks. Das Ritual war gebrochen. Ohne »Wortzauberer«-Tasse kein Koffein, kein Flow. Panik kroch in meine Brust.

»Ernest!«, rief ich, »was soll ich tun? Ohne meine Tasse bin ich verloren!« Ich starrte den Kaktus an, wartete auf ein prophetisches Pieksen.

Stattdessen schnappte ich mir einen anderen Becher – grün, kitschige Blumen drauf – und stellte ihn zögernd unter die Kaffeemaschine. Das Geräusch des Wassers tropfenden erfüllte die Küche.

Zurück am Schreibtisch zögerte ich. Drei Runden um den Tisch? Ich tat es. Dann setzte ich mich, nahm einen Schluck und … merkte, dass mein Hirn tatsächlich anzog.

Ich tippte: »Der Regen prasselte gegen die Scheiben …« und weiter, weiter, weiter. Es klappte, als wäre nie eine magische Tasse zerbrochen. Meine Ritual-Mythen lösten sich in Nichts auf.

Später rief ich Max an. Er lachte, als ich ihm von meinem Kaffeebecher-Desaster erzählte. »Rituale sind Quatsch«, sagte er. »Du schreibst, egal welche Tasse du in der Hand hast.«

Ich sah zu Ernest, der weiter vor sich hin stachelte, und grinste. Vielleicht war nicht die Tasse magisch, sondern nur der Wille, einfach anzufangen.

© Kreative-Schreibwelt 2025-09-03

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Romane & Erzählungen
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Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend
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