von Ronja Post
Liebes Tagebuch,
letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich schwanger bin. Ich hatte schon einen riesigen Bauch und es dauerte wohl nicht mehr lange, bis es so weit war. Aber kannst du dir das vorstellen? Ich und schwanger? Das ist unwahrscheinlicher als Freddie Mercurys Wiederauferstehung.Aber eigentlich war der Traum gar nicht so schlecht. Jeder hat auf mich Rücksicht genommen, sich um mich gekümmert und mich gefragt, wie es mir geht und man mir einen Platz anbieten könne. Letzte Woche im Bus musste ich erst umkippen, bevor mir jemand einen Platz angeboten hat. Mir war so schrecklich warm in meiner Winterjacke und der Maske im Bus. Der Busfahrer hatte es doch etwas zu gut mit der Heizung gemeint. Irgendwie ist mir ganz schwindlig geworden und ich wollte mich auf den Boden setzen, auf den ich mich normalerweise nie setzen würde, weil der so schrecklich klebt. Ich weiß nicht, wann der das letzte Mal gereinigt wurde. Aber soweit hab ich es leider nicht geschafft und bin einfach zusammengeklappt. Als ich wieder zu mir gekommen bin, starrten mich alle Leute im Bus an. Das war mir so unangenehm. Ich habe bemerkt, dass die meisten Leute nicht hinsehen wollten, aber sie konnten den Blick nicht abwenden. Nur ein Junge in meinem Alter fragte mich, ob es mir gut gehe und ob ich was zu Trinken bräuchte. Ich glaube, ich sagte so etwas wie, es gehe mir gut. Aber ich erinnere mich nur verschwommen, weil mein Blick noch getrübt und das Rauschen in meinen Ohren zu laut war. Also bin ich hektisch an der nächsten Haltestelle ausgestiegen, obwohl ich eigentlich noch drei Haltestellen weiter hätte fahren müssen. Die Blicke waren mir zu unangenehm. Außerdem wollte ich endlich diese Maske abnehmen und wieder atmen können. Ich musste mich eine Weile auf die kaputten Bänke an der Haltestelle setzen, bis das Rauschen endlich aufhörte und ich wieder so viel Luft bekam, dass ich nicht mehr wie ein asthmatisches Walross atmete. Als ich mich gerade wieder aufraffen konnte stand eine junge, kugelrunde Frau vor mir. Offensichtlich schwanger. Und kannst du das glauben, liebes Tagebuch: Es war Nadine, die vor zwei Jahren auf ein anderes Gymnasium in der Stadt aus meiner Klasse gewechselt hatte. Wir waren nie so eng gewesen. Daher habe ich nie gewusst, warum sie gegangen war. Doch bevor sie etwas zu mir sagen konnte, rannte ich weg. Ich wollte nicht wieder die sein, die nichts zu erzählen hatte und ich wollte ihr auch nicht die Aufmerksamkeit für ihre Schwangerschaft schenken. Auch wenn es mich interessiert hätte. Aber die Aufmerksamkeit dafür bekam sie sicherlich von zahlreichen anderen Leuten. Ob sie wollte oder nicht. Ich wollte zu diesen Leuten heute nicht gehören. Oder vielleicht hatte ich auch einfach Angst, dass sie mich irgendwas fragt. Oder vielleicht war meine Angst auch größer, dass sie mich gar nicht erkannt hätte.
Nur eine letzte Frage: Ist es okay, dass man manchmal vor der Wahrheit flüchtet, um ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen?
© Ronja Post 2022-08-22