von Oskar Blumenfeld
Ich habe der Versuchung nicht widerstehen können, ältere Tagebucheinträge zu lesen. Ich sage mir, ich habe diesen Fehler gemacht; heute kann ich ihn mir leisten.
Heute könnte ich mich in Erregung schreiben, bis zur Verwahrlosung.
Bis zur körperlichen und geistigen Erschöpfung. Ich brauche nur noch ein Thema, einen Gegner; bisweilen ist es nur Schattenboxen, aber mein Blut kocht bereits.
Ich will mit Worten hineinschlagen, bis Blut spritzt. Ich will mich nicht schonen.
Auch wenn der Wahnsinn neben dem Ring steht, mit seinem weichen, weißen Handtuch, und die Seile für mich auseinanderspreizt.
Mir wird kalt werden, ich schlucke bereits schwer und meine Hand krampft ein wenig …
Ich weiß nicht, ob ich dem heute gewachsen bin. Der Atem wird unruhiger, als ziehe ein Sturm auf. Aber alles leere, schöne, sinnlose Bilder — immer noch Schattenboxen.
Wann kommt der Gegner aus seinem dunklen Versteck? Soll ich mich zurücklehnen und warten? Einfach in die Seile fallen lassen?
Es wird ständig kälter und ich zusehends verkrampfter, aber egal wie sehr ich heize, ich werde umso heftiger frieren.
Ich könnte mich auf dem voll aufgedrehten Heizkörper ausstrecken wie ein Fakir auf einem Stachelbett; ich würde nichts spüren. Vielleicht ist es ja bloß ein Training.
Wer kann das schon wissen?
Für den Krieger ist alles Training, bis plötzlich der Feind vor ihm steht.
Dann kann er nur hoffen, sich nicht bereits erschöpft zu haben.
Es ist von signifikanter Wichtigkeit, die Kräfte einzuteilen, zu pausieren, tief und ruhig zu atmen, sonst zerquetscht der Rivale einen auf der Stelle.
Oder schlimmer: Er steigt, angesichts der Verwahrlosung und Konstitution seines Gegners, gar nicht in den Ring.
Das wäre natürlich eine verhältnismäßig große Demütigung und eine vernichtende, katastrophale Niederlage. Aber es kann passieren, ohne den Gegner je zu Gesicht bekommen zu haben, ohne auch nur eine aufs Maul gekriegt zu haben, in die Knie zu gehen.
Man ist ja verwirrt und verrückt, überhaupt in diesen Ring zu steigen, wo jeder Gegner auftauchen könnte; wo es keine Regeln, keine Klassenunterschiede und keine Unterteilungen wie Leicht- und Schwergewicht gibt.
Es ist zwar nur Papier und Stift, aber es würde reichen, einen komplett zu vernichten.
Schreiben ist ja wie Boxen und wer es ernst nimmt, wird wissen, dass es gefährlich sein kann. So wertvoll und augenöffnend es sein kann, so zerstörerisch, auslöschend und tödlich kann es sein.
Aber es ist die Berufung im buchstäblichsten Sinn für den Lebensmüden. Es ist Sucht!
Es wirft ja gewissermaßen die Lebensmüdigkeit um wie eine Münze.
Man muss auf der Hut sein. Man will schließlich daran zugrunde gehen …
Es hat schon viele große Kämpfer hervorgebracht, verrückt gemacht und umgebracht.
Wenige haben sich darin versenkt und die Zügel einigermaßen fest in den Händen behalten. Irgendwann ist es ja nur noch ein Zuschauen.
Kriegsberichterstatter bei einem Massaker.
© Oskar Blumenfeld 2025-01-18