Tango,oder die Idee der Einheit

Ferry Nielsen

von Ferry Nielsen

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wien

Der Tango ist schwer in Worte zu fassen, aber für mich wäre er das Ideal der Einheit, der totalen Transparenz. Sehr spirituell – und wie in allen Religionen angestrebt: Einheit, Transparenz und Kontemplation. Jeder Mensch ist anders, reagiert anders. Eins und eins ergibt im Tango nicht zwei, sondern eins. Ein Mann und eine Frau ergeben ein Paar. Wenn wir aufhören, nur noch einen der beiden Tänzer zu beobachten, ist das der Moment, in dem das Paar die Idee der Einheit verliert. Auch ist es beim richtig getanzten Tango unmöglich, nur die Einzelperson zu beobachten. Sobald sich der Tanz als individuelle, eitle Bemühung zu entwickeln beginnt, verliert sich das Paar – und damit seine Einheit.

Und sobald sich das Paar verliert, verliert sich der Tango.

Der Moment, wo man mit dem Tanzpartner und der Musik verschmilzt, ist oft so großartig, dass man ihn nicht anhalten kann – und danach folgt des Öfteren fürchterliche Leere und Depression. Und je intensiver der Tanz war, desto größer ist der darauf folgende Entzug. Man sollte den Versuch machen, das Gefühl mit nach Hause zu nehmen. Vielleicht sogar auf die Reise ans Ende der Nacht.

Umso mehr sich das Tanzpaar verbunden fühlt – und das ist sehr verschieden, – desto mehr passiert Tango.

Diese Wechselbeziehung ist eine einmalige und nicht wiederholbare Beziehung, die sich sofort verändert, wenn die Tanzpartner wechseln. Nicht einmal dann, wenn wir mit demselben Partner zur selben Musik am gleichen Ort tanzen, ist der Tango gleich. Er ist immer neu. Nie wiederholbar.

Auch die Körper sind wichtig – und wie sie zusammenpassen. Wie sie sich zusammenfügen, fast wie Scharniere die ineinandergreifen. Wie beim Lego, Matador oder einem Puzzle. Die Körpergröße muss passen. Der Umfang. Alles. Man ist immer auf der Suche nach dem idealen Gegenstück.

So werde ich mit einer schlankeren Person, die mir Raum lässt, nicht die gleiche Art von Bewegungen vollführen wie mit einer eher korpulenten Person, die ihn mir nimmt.

Ich muss also alle meine Bewegungen in Bezug auf den Partner sehr genau anpassen. Meine Tanzhaltung immer wieder auf andere, neue Körper einstellen und mich nie nach einem starren Schema bewegen. Mich fortwährend anpassen, nachgeben, ergänzen und wieder anpassen. Als Zuschauer bei Milongas kann ich immer wieder beobachten, welche Tänzer kein Paar bilden. Sie tanzen oft gegeneinander und nicht miteinander. Also jeder für sich – und nicht mit dem anderen.

Der Tango ist ein improvisierter Tanz, daher wird die Form in jeder Sekunde ihrer Ausführung neu entwickelt. Noch ein weiterer Grund für die Einheit.


© Ferry Nielsen 2025-02-05

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