von Beate Schilcher
In welchem Land ich wohl wohnen werde, wenn ich erst einmal fürs Zeugenschutzprogramm fällig bin? Welchen Namen, welche Haarfarbe werde ich tragen?
Es kann passieren. Schon bald kann es so weit sein. Ein einziger Klick, und noch ein paar, und mein Leben verändert sich grundlegend.
Tantchens Bruder lebt in der Ferne, unterm Äquator. Sie sind innig verbunden, sehen einander aber – geografiebedingt – selten. Seitdem beide die 80er Marke überschritten haben, noch seltener. Also wird gezoomt und gemailt.
Unlängst hat Tantchens Nichte mir ein Video von Tantchens Bruder gemailt. Welches ich dann an Tantchen weitergeleitet habe. Das heißt: den Link zum Video auf Mail Drop. Geht ja nicht über Email, volumenbedingt. Pdfs kann Tantchen öffnen. Klaglos. Naja. Meistens. Sofern sich Outlook zufallsklicken lässt. Mail Drop ist neu für sie. Psychologisch geschult, verknüpfe ich also den Link mit der Aufmunterung „ist vorerst ungewohnt, hab Geduld, es ist ganz leicht hochzuladen. DU KANNST DAS“.
Prompt die Rückmeldung: „Kann NICHTS finden“. Habe ich natürlich erwartet. Also stelle ich eine Step-by-Step Gebrauchsanleitung mit allen Klicks, Pfaden und Eventualitäten zusammen, und überlege eine Zusatzkarriere als Gebrauchsanleitungsverfasserin für Senior*innen. Daraufhin meldet Tantchen: „Ein Video mit Gesang konnte ich öffnen. Sonst NICHTS.“
Es war kein Video mit Gesang.
Wir wissen also nicht, was Tantchen da geöffnet hat. Sie hüllt sich diesbezüglich in Schweigen. Was wir wissen, ist Folgendes: Tantchen mag keine Gebrauchsanleitungen. Sie drückt und klickt vielmehr so lange nach dem Zufallsprinzip herum, bis sich was tut. So verfährt sie mit Laptop, Handy und sämtlichen Fernbedienungen. Gelernt ist: Irgendwas tut sich immer. Oft genug genau das, was sie will. Tantchen ist furchtlos. Sie rockt das Internet.
Was aber, wenn Tantchen eines Tages eine Tastenkombination erwischt, die sie direkt in die Europäische Zentralbank, den CIA Zentralcomputer oder den Live Ticker auf Fox News einloggt?
Was, wenn Tantchen DAS SYSTEM hackt?
Für diesen Fall will ich vorbereitet sein. Daher bleibt Tantchen für alle Zeit anonym. Vielleicht ist das Tantchen ja ein Onkelchen. Vielleicht kenne ich sie gar nicht. Vermutlich habe ich sie erfunden. Wahrscheinlich sind wir nicht verwandt. Es gibt keinen Bruder in Südamerika. Oder auf Bali. Ich schreibe unter einem Pseudonym und lebe auf einer unentdeckten Insel. Ich bin ein Roboter. Tantchen ist frei erfunden. Keine Sorge. Niemand wird Boris Johnsons Home Videos hacken. Schon gar nicht Tantchen. So etwas könnte sie gar nicht. Das alles wird nie passieren. Das Internet ist ein vollkommen sicherer Ort.
Die Atlantikküste vor Maine würde mir übrigens gut gefallen. Oder die Provence. Und rotes Haar. Karrieretechnisch bin ich flexibel. Irgendwas Harmloses wäre fein. Ich könnte Lavendel anbauen. Oder im Home Office Gebrauchsanleitungen für Senior*innen schreiben.
© Beate Schilcher 2021-09-05