The Times They Are a-Changin‘

lavoce

von lavoce

Story

Ein maturiertes, quasi über Nacht gereiftes Kind will gefeiert werden. The times they are a-changin‘. Anno dazumal hieß es Maturafeier. Heute Maturantenverabschiedung. Der Teufel liegt im Detail. Ich könnte mich nicht erinnnern – gut, das hat im konkreten Fall andere Gründe – dass bei unserer Maturafeier vor 32 Jahren auch nur eine Menschenseele eine Träne verdrückt hätte. Weder Eltern noch Schüler. Lehrer schon gar nicht. Alle waren happy, glücklich, beseelt. Die einen von Mutter Natur aus, bei anderen hat Vater Alkohol ein bisserl nachgeholfen.

Doch kommen wir wieder in die Gegenwart: Um dem Namen Maturantenverabschiedung gerecht zu werden, wurden vom mit Sound-Erythrozyten im Blut gesegneten Musikprofessor traurige, herzzerreißende Songs einstudiert. Da wäre jede Begräbnisfeierlichkeit neidisch geworden. Aber wider Erwarten hielt ich mich tapfer. Auch die obligatorischen Ansprachen gingen spurlos an meinen Tränendrüsen vorüber. Stolz auf meine neuentdeckte Selbstkontrolle wiegte ich mich in trockener Sicherheit. Doch dann kam sie. Die einzigartige, bezaubernde Klassenvorständin. Was für eine wunderbare, zu Herzen gehende Rede! Langsam begann es zu jucken. In den Augen. In der Nase. Als ich das Augen-Pipi der Maturantinnen spähte, schien mein Untergang besiegelt. Es begann zu kullern. Das Gesicht sich zu verziehen. Echt jetzt? Das war schließlich kein Begräbnis. Eine kurze Trockenphase rangierte in Sichtweite. Zeugnisverteilung. Aufatmen. Lächeln. Sich freuen.

Irgendwann dröhnte Slipping through my fingers von ABBA durch die Lautsprecher, bildlich untermalt von einer Diashow. Meine Contenance? Bereits beim ersten Ton ausgeknockt. Wie Fontänen schoss es senkrecht aus meinen Glubschern. Mein Trost? Verheulte Gesichter so weit das geflutete Auge reichte. Eltern, Lehrer und Schüler in trauter Tränen-Sturzbach-Einigkeit. Kollegial wie meine Tränen nun mal sind, beschlossen sie, es ihren Leidgenossen gleich zu tun und nicht mehr zu versiegen. Um dem ganzen einen Riegel vorzuschieben, flüchtete ich kurz auf die Toilette. Da sich die stimmungsaufhellende Wirkung eines Gymi-Häusls in Grenzen hält, kam ich gleich verheult zurück. In dem Moment ertönte Rachmaninov am Klavier. Wollten die mich komplett fertig machen? Doch dann. Ein Lichtblick. Zwei lustige Schülerreden der Parallelklasse. So meine Hoffnung. Die fingen auch wirklich witzig an, um jäh mitten im Satz tränengebeutelt abgebrochen zu werden. Ich war erledigt. So was von. Ab dem Zeitpunkt gab’s kein Entrinnen mehr. Es floss in Strömen. Sintflut war nix dagegen.

Ein Blick zu meiner Tochter. Als Einzige saß sie stoisch, kerzengerade, mit einem Dauerlächeln am Gesichterl, selig vor sich hingrinsend auf ihrem Stuhl. Lustiges Kind.

Definitiv nicht meine Gene …

© lavoce 2024-06-19

Genres
Humor& Satire
Stimmung
Emotional, Komisch
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