Ich ging weiter. Im Regen und mit bester Laune. Die war irgendwie nicht totzukriegen. Und trotz der kargen Landschaft wurde mir nie langweilig. Mir gingen so viele Gedanken durch den Kopf. Welche Veränderungen ich schon in mir spürte. Ich war spiritueller geworden, hörte auf meine Intuition, vertraute aufs Universum, ging mit dem Flow und reflektierte vieles. Ich verstand, dass alles was passierte, eine Bedeutung hat und alles zu mir kommt, was zu mir kommen soll. Ich musste es einfach nur annehmen. Ich dachte auch über Freundschaften und Beziehungen nach. Tiefe war für mich der Schlüssel. Die Begegnung mit Bea war magisch. Ich fühlte so mit ihr mit, als sie mir erzählte, wie ihr die Lügen ihres Ex-Freundes zugesetzt hatten. Und wie sie einen Kontrollwahn entwickelte – jemand wurde – der sie nicht sein wollte. Ich verstand sie so gut. Irgendwann sank meine Laune dann aber doch. Nämlich mit ansteigender Windstärke. Wenn so ein eisiger Wind die ganze Zeit von links hinten penetrant auf dich einwirkt, konnte das hart sein. Vor allem, wenn man Halstuch und Mütze ganz unten im Rucksack vergraben hatte. Da half nur eins: Rucksack runter, ALLES komplett aus- und wieder einpacken, Schutzkleidung an, Stöcke einsammeln und weiter laufen. Und auch über den Wind philosophiert ich. Woher kommt er? Wie entsteht er? Und warum will er mich so ärgern? Die Gedanken sprudelten in meinem Kopf.
Generell wurden der Weg und auch die Konditionen härter und verlangten mir einiges ab. Nicht nur physisch. Ich erzählte meinen Eltern endlich von dem Ende der Beziehung mit Thomas. Es überraschte sie nicht. Was mich aber emotional sehr aufwühlte, war eine andere Botschaft: Dass mit dem Wandern bald Schluss sei und dann auch mal wieder das normale Leben losgehen müsse. Immer so unterschwellig und vorwurfsvoll, als wäre ich ein Problemfall. Ich mochte das ganz und gar nicht. Nach außen hin zeigten sie immer, wie stolz sie auf mich waren und das passte ganz und gar nicht dazu. Ich wusste natürlich auch, dass sie sich einfach Sorgen machten um meine Zukunft. Sie sind eben Eltern. Aber es zeigte mir auch etwas. Dass es ganz allein mein Leben war und ich anfangen sollte mit Kritik und den Zweifeln anderer klarzukommen. Solange ich Vertrauen in mich hatte und mich auf dem richtigen Weg fühlte, war alles gut. Und dann kam der letzte und für mich auch härteste Abschnitt der Meseta. Meine persönliche mentale Herausforderung. Ich hatte die Alternativroute nach Mansanilla de las Mulas gewählt. Einsamkeit entlang der alten Römerstraße Calzada Romana. Da hier so gut wie keine Orte auf der Strecke kamen, wählten wenige Pilger diese Alternative. Und der Wind legte nochmal ordentlich eins drauf. Ich kämpfte mit extremen Sturmböen und HUNGER. Dem Wind zu trotzen war anstrengend. Nach 20 km ging es nicht mehr und ich hockte mich hinter einen Steinklotz auf den Boden, um etwas zu essen. Mitten im Nirgendwo und der Wind pfiff mir um die Ohren. Aber ich kämpfte mich durch. Mit Singen und Selbstgesprächen. Ich bewunderte die Vögel. Wie sie sich mit dem Wind übers Feld trieben lassen. Sich völlig der Kraft der Natur hingaben. Auch wir Menschen sollten es so machen. Sich einfach treiben lassen, mit der Windrichtung – ohne Widerstand und ohne Angst. Genauso wollte ich leben und ich war auf einem guten Weg dahin.
© Sabrina Grabowski 2023-09-17