Therapie Tagebuch IV

Louise Ziegler

von Louise Ziegler

Story

Ich habe morgen um acht meinen nächsten Termin. Acht Uhr morgens. Das ist völlig verrückt. Ihr müsst wissen, für mich ist acht das, was für normale Menschen fünf ist. Falls das hier also ein normaler Mensch liest, muss er sich nur mal vorstellen, er hat freiwillig einen Termin vereinbart, bei dem er um fünf irgendwo frisch und fertig auf der Matte stehen muss, ergo Pi mal Daumen um drei oder halb vier aufstehen muss. Um drei Uhr morgens gehe ich meistens schlafen, frühestens um eins. Leute, die um zehn Uhr abends schlafen gehen – oder um neun – werde ich niemals verstehen können; wir könnten genauso gut eine andere Sprache sprechen; mir sind diese Leute ehrlich gesagt so unverständlich wie Spinnen, die den ganzen Tag in ihrem Netz rumhocken. Ich meine, denken die Spinnen etwas, während sie so rumsitzen und auf ihr Essen warten? Denken sie viel und Wichtiges oder denken sie nur darüber nach, wie fett wohl die arme ahnungslose Fliege sein wird, die sie verschlingen werden? Manchmal sind die Fliegen oder was da sonst so in den Netzen hängenbleibt dreimal oder fünfmal so groß wie die Spinne, die die Falle gesponnen hat. Das ist doch verrückt, oder nicht? Jedenfalls habe ich freiwillig diesen Termin morgen um acht Uhr morgens vereinbart, statt lieber eine Woche ausfallen zu lassen. Es fühlt sich bisher zwar nicht gerade so an, als ob das ganze, das mit der Therapie und das alles, viel bringen wird – ich kann mir bisher nicht vorstellen, dass es irgendwas bringen wird, irgendwas, das mich aus dem dreißig Meter tiefen Loch rausholt, in dem ich rumhocke (und übrigens durchaus viel und meistens Wichtiges nachdenke) -, aber ich weiß nicht, da hinzugehen und frisch und fertig auf der Matte zu stehen und reingebeten zu werden und diesem Mann gegenüberzusitzen, der sich dafür interessiert, dass ich mich in dem Loch befinde und so, das tut irgendwie ein bisschen gut. Natürlich interessiert er sich zum Teil für mich wegen dem Geld, das er dafür bekommt, dass er sich für all die Menschen und ihre Probleme interessiert, das ist mir schon klar. Aber zum Teil interessiert er sich schon auch wirklich, glaube ich. Nicht so wie manche, die dick Kohle machen und einem nur das Zeug runterleiern, das ihnen an der Uni infiltriert wurde, ohne einen blassen Schimmer von dem zu haben, was sie da reden, und vor allem ohne jedes echte Interesse an dem Menschen, der ihnen da gegenübersitzt und mit aller Mühe versucht, sich die Seele aus dem Leib zu reden, weil sie es nicht mehr aushält, immer weiter eingesperrt zu sein, die gute alte Seele.

Am Ende der ersten, also der allerersten Sitzung hat er mich gefragt, ob ich Suizidgedanken habe. Das hat mich schon ein bisschen umgehauen; da habe ich den Herrn gerade vor ungefähr fünf Minuten kennengelernt und schon fragt er mich, ob ich mich umbringen will. Ich denke, das gehört eben dazu, wenn man sich mit einem Fremden gegen Geld über seine tiefsten Gefühle und so unterhält. Nachdem ich erzählt hatte, wie beschissen alles ist und mein Leben wie einen Serienplot zusammengefasst hatte, in der Hoffnung, dass er kapiert, worum’s geht, also tatsächlich und nicht nur an der Oberfläche, meinte er so ungefähr „Apropos ‚aushalten‘: Haben oder hatten Sie früher einmal Suizidgedanken?“ Mein letzter, zusammenfassender Satz war nämlich sowas gewesen wie: „Ja, es ist jedenfalls manchmal ziemlich schwer auszuhalten, das Leben und alles …“

© Louise Ziegler 2025-04-29

Genres
Romane & Erzählungen
Hashtags