Seit einiger Zeit male ich die Bilder nach der Therapiestunde nicht mehr mit Wasserfarben, sondern mit Buntstiften. Details und Gefühle lassen sich so viel besser ausdrücken.
„Was soll ich nun mit all diesen Bildern anfangen?“, frage ich die Therapeutin. „Das sind alles Anteile von Ihnen. Es sollen Ressourcen gefunden werden, als Hilfe und Gegengewicht zur Angst. Wenn Sie sich eine Waagschale vorstellen, ist auf einer Seite Ihre Angst, und auf der anderen Seite werden Ihre inneren Kraftquellen gesammelt. Ziel ist zumindest ein Gleichgewicht. Sie sammeln Strategien gegen die übergroße Angst in Ihnen. Und das geht nur in kleinen Schritten.“ antwortet sie erklärend und geduldig.
Die Brücke erscheint wieder nur ganz kurz. Eine kleine schmale Holzbrücke. Gebogen. Nur für Fußgänger! Ich sehe die Brücke zuerst nahe, dann von weiter weg. Mir ist als ob ich in die Tiefe schauen müsste. Ich bin irgendwo weiter oben. Es geht ziemlich steil runter. Ich stehe auf einem Plateau aus hellem sandfarbenem Stein. Ich bin ganz oben auf einem Berg. Es gibt keinen Gipfel, aber dafür dieses Plateau. Ich stehe fast am Rand. Ich schaue ins Tal.
Da unten ist ganz ganz klein die braune Brücke. Rund um mich herum sind viele Bergspitzen. Ich kann unendlich weit sehen. Ich bin nicht schwindlig. Ich habe keine Höhenangst. Ich bin stolz, es geschafft zu haben. Ich stehe ganz oben am Gipfel. Ich habe es geschafft. Es ist herrlich hier! Es ist ganz still. Ich bin ganz alleine! Der Wind bläst ein bisschen. Ich bin gut ausgerüstet; Wanderzeug und Bergschuhe. Ich kann diesen Ausblick voll genießen, obwohl es auf dem Bild nicht so aussieht. Es schaut so aus, als ob es nur mein Kopf genießt. Arme und Oberkörper sind angespannt. Die Beine stecken fest in den Bergschuhen und haben dadurch einen guten Halt.
Während der Trance war das Gefühl anders als auf der Zeichnung. Ich glaub nicht, dass ich so angespannt war. Ich hab es genossen. Ich bin am Gipfel. Ich bin allein. Ich muss auf niemand anderen aufpassen. Nur auf mich allein. Ich habe keine Verantwortung für andere. Nur für mich. Ich kenne diese Berge nicht, aber ich könnte stundenlang einfach nur schauen. Es erinnert mich ein bisschen an einen Berg, den ich vor ca zwei Jahren bestiegen habe. Auch der Abstieg war ähnlich. Über einen steilen holprigen Weg in Serpentinen nach unten.
Solche Wege mag ich nicht. Die Steine geben nach und rutschen weg. Es ist kein Halt da. Ich gehe ganz vorsichtig und langsam. Schaue auf den Boden und suche gute Tritte für meine Füße. Ich bin froh, dass ich nur auf mich aufpassen muss und auf niemand anderen. Aber ich schaffe es. Langsam. Vorsichtig. Auch verkrampft, weil immer die Gefahr da ist, auszurutschen oder zu stürzen.
Nach dem steilen Abstieg erreiche ich die Almen. Hier sind die Wege breiter, weicher, sicherer. Hier kann ich locker gehen. Die Arme schwingen. Alles geht leicht. Viel weniger Anspannung in Körper und Geist. Ich bleibe noch ein bisschen in der Sonne stehen. Es ist einfach herrlich !
© Liselotte-Pulverfass 2020-09-04