Tiefenmessung

Sevdalina Markova

von Sevdalina Markova

Story

Das Problem war, dass ich kein vorhersehbarer Roman war. Auch kein schweres Buch zum Wegwerfen. Ich war nicht fett (als Kind dachte ich, ich sei fett, aber ich hatte damals nicht genug Bücher gelesen und hatte keine Vergleichsgrundlage, und ich war feige um in mich hineinzuhorchen). Die wenigen Seiten, die ich hatte, brauchten Zeit, um entschlüsselt zu werden. Nicht nur Zeit, sondern auch Analyse. Ich gehörte nicht in die Belletristik, aber ich würde mich auch nicht als trocken und dokumentarisch bezeichnen. Ich war eine Art Mischung. Und während im Bild in meinem Kopf die Figuren und Formen des Mädchens und das Bild, das sie malte, klar waren… in meiner Seele widersprachen Fotevs (*bulgarische Liebespoesie) Zeilen über die Liebe verschiedenen psychoanalytischen Schlussfolgerungen über die Kontrolle von Emotionen.

Die Selbstanalyse war meine Rettung und gleichzeitig meine Selbstzerstörung. Doch genau das wünsche ich mir für alle. Mein innerer Maßstab war genauer als jeder andere Maßstab auf dem Markt. Wenn ich jemanden kennenlernte, fing meine innere Waage an, solche Codes zu programmieren und Algorithmen aufzustellen, dass ich sie selbst neustarten wollte. Aber sie hatte keinen Neustart-Knopf. Wenn Du Dich erst einmal auf die Art und Weise eingelassen hast, wie andere auf Dich reagieren, und auf Deine emotionale Reaktion auf das, was (mit Dir) geschieht, gibt es kein Zurück mehr. Das ist so, als ob man vergessen würde, wie viel eins plus eins ergibt. Du sprichst es vielleicht nicht laut aus, aber die Antwort ist so deutlich in Deinem Gedächtnis verankert, dass Du sie nicht mehr löschen kannst. So habe ich mich gefühlt, als mir jemand erzählte, wie dick das Steak sei, welches er gegessen habe. Meine Waage ordnete ihm automatisch einen schwarzen Punkt zu, und ich konnte es nicht verhindern.

Die Frage, die mich plagte, war eher, warum ich manchmal damit aufhören wollte. Warum ich das wunderbar funktionierende System meiner inneren Waage manipulieren wollte. Wäre es gesund für mich, mein Bett und meine Zeit mit jemandem zu teilen, mit dem ich weder meinen Teller und noch nicht mal ein Drittel meiner Weltvorstellungen teile?

Die Waage war mein Verstand und mein Herz in einem. Sie hat mich geliebt. Aber wer wollte sie dann aufhalten? Es war nicht mein Herz, dieses liebt die Tiere. Ich glaube, es war die Angst.

Die Tendenz, sich mit weniger zufrieden zu geben, als uns zusteht, nimmt in einer Gesellschaft zu, in der es besonders wichtig ist, das zu haben, was der Nachbar hat. Wenn man kein großes Glück hat, malt der Nachbar normalerweise nicht und schreibt keine Bücher. Aber er hat eine Frau. Und einen großen Garten. Eines Tages wachst Du unversehens neben der Frau auf, neben Deiner, nicht neben der des Nachbarn natürlich. Du stehst auf, frühstückst im großen Garten, natürlich in Deinem, nicht in dem des Nachbarn. Aber Du träumst immer noch von dem Gemälde oder dem ungeschriebenen Buch.

© Sevdalina Markova 2022-08-16

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