Tiere

Hanna Oppelmayer

von Hanna Oppelmayer

Story

Als das Neonlicht in der gesamten Gumbad anging und es langsam hell wurde, war Theo schon längst wach. Heute war sein zwölfter Geburtstag. Er konnte es kaum erwarten! In der linken Hand die Kiste mit den Kerzen und in der Rechten die alte Holztruhe, polterte er die Treppe hinunter.

„Na, na. Jetzt aber mal schön langsam“, sagte sein Großvater mit einem Lächeln in der Stimme. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling!“ Theo stellte die Truhe und die Box auf den Tisch und umarmte seinen Großvater. „Erzählst du mir wieder eine Geschichte?“, fragte er aufgeregt. „Du kannst es wohl kaum erwarten, was?“ Der Alte lächelte. Gefolgt von seinem Enkel ging er ins Wohnzimmer und ließ sich schwerfällig in seinen roten Armsessel fallen. Er zündete sich eine Pfeife an. Dann schloss er behutsam die Truhe auf und schob sie Theo hin. Er wartete, welches Foto sein Enkel diesmal aussuchen würde.

Wie beim letzten Mal schaute Theo die Fotos lange an, bevor er sich für eines entschied. „Das hier!“, sagte Theo und legte eine Fotografie vor sich auf den Tisch. Das Foto zeigte einen Mann, der auf einem vierbeinigen Wesen saß. Es war groß, hatte einen langen Hals und war am ganzen Körper behaart. Daneben saß ein kleineres Wesen – ebenfalls vierbeinig und behaart. „Was ist das?“ Theo sah seinen Großvater fragend an. Der Alte nahm die Fotografie und sein Blick wurde weich und traurig zugleich, als er auf seine alten tierischen Freunde sah.

„Das hier bin ich auf unserem Pferd Cobey. Wir haben unzählige Stunden draußen in den Wäldern verbracht. Es war wunderschön. Und das hier ist unser Hund Leya. Die treueste Seele, die man sich nur vorstellen kann. Immer an meiner Seite und loyaler als jeder menschliche Freund.“ Die Augen des alten Mannes schimmerten feucht, als er sich an früher erinnerte. „Pferd? Hund? Was ist das?“, fragte Theo vorsichtig nach. Theos Großvater holte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich über die Augen. „Pferde und Hunde sind Tiere. Es gibt … es gab Millionen verschiedene Arten von Tieren. Schon lange Zeit bevor es den Menschen gab, lebten die Tiere friedlich untereinander. Als dann der Mensch kam, begann er einige Tierarten zu zähmen und hielt sie als Haus- und Nutztiere. So zum Beispiel Hunde und Pferde.“

„Aber wieso gibt es jetzt keine Hunde und Pferde mehr?“, fragte Theo verwirrt. Ein Schatten huschte über das Gesicht seines Großvaters. „In der Gumbad ist die Nahrung so knapp bemessen, dass wir keine Tiere erhalten können. Es ist Jahre her, dass die letzten Hunde und Pferde gelebt haben. Leider.“ Der Alte wischte sich abermals über die Augen. „Anderen Tierarten erging es noch viel schlechter. Nämlich denen, die in freier Wildbahn gelebt haben. Sie wurden vom Menschen gejagt und er zerstörte ihren Lebensraum.“ „Aber wieso denn das? Man jagt und tötet doch keine Freunde!“, rief Theo erschrocken. Sein Großvater strich ihm sanft übers Haar. Auf diese Aussage hatte er keine Antwort, denn sie war wahr.

© Hanna Oppelmayer 2022-08-24