Tobias

Annika Portuné

von Annika Portuné

Story

Da ist sie also. Die Frage. Unauffällig werfe ich einen Blick auf die Uhr. Die Wette mit mir selbst habe ich verloren. Ich habe auf drei Minuten getippt. Es hat aber tatsächlich nur zwei gedauert. >>Nein, ich habe keinen 1,0 Schnitt im Abi.<< Betretenes Schweigen. Ich sehe meine Mutter sich an einem krampfhaften Lächeln versuchen und wie mein Vater ihr unauffällig über den Rücken streicht. Die beiden sind wirklich perfekt füreinander. Ärzte, intelligent, klares Ziel vor Augen. Unglaublich, wie ich aus ihnen hatte entstehen können. Hätte ich bei Genetik in der 10. Klasse aufgepasst, hätte ich es vielleicht sogar erklären können.>>So schlimm ist das in der heutigen Zeit doch nicht<<, sagt unser Gast, Dr. Laufenstein, der sich überraschenderweise schnell von seinem Schock erholt hat. >>Du machst einfach einen sehr guten Medizinertest und bei deinem Namen reißt sich sowieso jede Exzellenzuniversität um dich.<< >>Ich glaube kaum, dass selbst ein hervorragender Medizinertest ein 3,1 Abi ausgleichen kann.<< Herr Laufenstein hustet unkontrolliert in seinen Cappuccino. Ich sehe den leidenden Blick meiner Mutter, doch unsere Vereinbarung ist mir egal. Warum verstecken? Sie tun das nicht, aber ich stehe zu mir. >>Ich möchte außerdem gar kein Medizin studieren, sondern eine Weltreise machen und danach Musik studieren.<< >>Ach, so ist das.<< Herr Laufenstein nickt verständnisvoll und wechselt einen Blick mit meinen Eltern, als würde sich ihm nun alles erklären.>>Wir alle haben verrückte Gedanken, wenn wir jung sind. Da ist es wichtig, sich von Vernunft leiten zu lassen und auf lebenserfahrene, ältere Menschen zu hören, die es gut mit dir meinen. Was ist schon…<< >>Es ist nicht verrückt,<<, falle ich ihm ins Wort. >>sondern was mich glücklich macht. Und in meinen Augen ist nur das vernünftig: Dem zu folgen, was einen glücklich macht. Ich will nicht zehn Jahre meines Lebens in einem Studium verplempern, das mir keinen Spaß macht, nur um einen Job auszuüben, der mich nicht erfüllt.<< Ich merke, dass ich mich in Rage rede, aber es tut gut, alle jahrelang unterdrückten Worte, all den Druck, den meine Eltern mir aufgebürdet haben, loszulassen. >>Ich war noch nie wie ihr oder habe zu euch gehört. Aber das konntet ihr nie eingestehen.<< Ich registriere die angeschwollene Wutader meines Vaters, doch als er redet, klingt er ruhig und kontrolliert. >>Tobias. Du kannst deinen Genen nicht entkommen. Du bist dein Blut. Und früher oder später wirst du erkennen, wie falsch du gerade liegst.<< Ohne Antwort stehe ich auf, greife meine Jacke und Gitarre und schlage die Haustür hinter mir zu. Draußen regnet es, doch das ist mir egal. Nur ich und die Welt, alleine und unverstanden, wie es schon immer gewesen ist. Um die Gitarre tut es mir zwar leid und auch um die Menschen, die meinen schrägen Gesang ertragen müssen, während ich ein Lied von Ed Sheeran anstimme, doch ich fühle mich lebendig. Und das ist alles, was zählt.

© Annika Portuné 2022-08-10

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