von Andreas Bartsch
Sie hing mit dem Kopf nach unten an der Pflanze in unserer kleinen Küche. In Fensternähe. Alles war wie immer. Eigentlich… Mir fiel auf, dass Pepa, so hieß unsere Gottesanbeterin oder besser Mantis, nur noch mit vier Beinen, statt wie üblich mit sechs, an dem Blatt klebte. Etwas kraftlos.
Meine Freundin fragte mich damals, also vor etwa einem Jahr, ob ich was dagegen hätte, wenn wir solch ein Insekt bei uns im Hause hätten. „Ein Weibchen. Wenn man die auf eine Pflanze setzt, bleiben die da. Und warten einfach bis sie gefüttert werden.“ Ich stimmte also zu aber so ganz wohl war es mir dabei nicht.
Nachdem wir sie gekauft hatten setzten wir sie zu Hause auf eine kleine Pflanze im Esszimmer. Da blieb sie sitzen. Und bewegte sich nicht. Meine Freundin kaufte noch eine Box Heuschrecken. Zum Füttern.
Zum Glück wuchs Pepa. Gottesanbeterinnen schlüpfen wie Schmetterlinge aus ihrem Chitinpanzer heraus, wenn sie größer werden. Man kann sie aber selten dabei beobachten. Es geschieht meistens nachts. Dann sitzt plötzlich am Morgen ein neues Wesen da. Das war aber dann interessant für mich. Wir beobachteten sie. Tauschten nach und nach ihren Platz. Setzten die Pflanze mit Mantis unter eine Lampe im Esszimmer. Ich erinnere mich noch, wie ich eines morgens zum Frühstück kam, das Licht anknipste, und sie dann langsam ihr Köpfchen aus den langen Armen erhob, ganz langsam, und nach oben schaute. Zum Licht. Sie hatte tatsächlich noch geschlafen. An diesem Morgen ist sie mir endgültig ans Herz gewachsen.
Als sie noch größer wurde, entschieden wir uns dann für den Platz in der Küche. Sie liebte das Fenster und (von wegen standorttreu …) ging oft auf Wanderschaft, sodass wir manchmal die komplette Küche absuchen mussten um sie dann in einem Müllbeutel oder direkt am gekippten Fenster zu finden. Was für ein Schreck!
Sie häuten sich sechsmal. Danach leben sie nicht mehr lange. Man rechnet damit und trotzdem schmerzt es einen. Sie begleitete uns ein Jahr lang. Agil. Gelangweilt. Hungrig. Gestresst. Anmutig,
Aber jetzt hängt sie nur noch an … zwei Beinen. Oh Nein! Sie putzt ein letztes mal ihre Zangenwerkzeuge. Ein Bein… Sie rollt den Kopf in das Zangenbein ein, als ob sie sich selbst umbringen wollte, vor Schmerzen. Krümmt sich.
Sie ist am Sterben. Es erwischt mich eiskalt. Das hat sie nicht verdient. Wir entscheiden uns schließlich, sie in eine Box zu legen und dann ins Gefrierfach. Damit sie langsam und in Frieden einschlafen kann. Und sich nicht quält. Nach einem Jahr.
Einen Tag später ruft mein Cousin an und teilt mir mit, dass am Abend zuvor meine Lieblingstante Anne-Marie gestorben ist. Scheinbar genau zur selben Zeit wie Pepa …
Manchmal schauen wir abends immer noch Richtung Pflanze, so als ob sie da ruhig wie ein Blatt sitzen würde und uns beobachtet. Und dann denke ich auch an Anne-Marie.
© Andreas Bartsch 2024-11-27