Toller Hund

Meine kleine Schwester schreibt, wie’s mir ginge. Ich antworte: “Scheiß Tag. Schlecht geträumt.” Sie schreibt: “Ich auch.” Sie träumt von Vati, ich von Lydia und von Vati. Ich mach das Rennen klar. Was ich mache, will sie wissen. Ich schreib, dass ich vielleicht eine Runde fahre, aber eher nicht, weil ich ja doch nur wieder zu Lydia fahren würd. Wir sind einander emotional recht nah, meine Schwester und ich. Im Schmerz nicht unähnlich. Allein, emotional kann sie mir nicht das Wasser reichen. Diese tiefe Liebe, die große Verzweiflung, die unendliche Liebe, Herzangelegenheiten, die über allen Verstand hinausgehen, das alles kennt sie nicht. Ob Frauen überhaupt so tief empfinden wie Männer? Ich meine nicht. In Herzangelegenheiten sind Frauen wesentlich nüchterner und schneller über alles hinweg. Und wenn eine Beziehung zerbricht, ist niemand grausamer als Frauen. Scheidungsanwälte werden mir Recht geben. Ob meine kleine Schwester schon alt genug ist, dass ich ihr ein wenig von meinen Träumen erzähle? Ist sie soweit mit 43? Ich schreib ihr zwei, drei Sätze, meine Gedanken. Sie antwortet: “Das wird schon.” Na, vielen Dank! Ich sag ja, Frauen kennen diese tiefen Emotionen nicht. Da erzählt man dem Blinden was von der Farb‘.

„Das wird schon.“ Was für ein Scheiß! Was wird schon? Gar nix wird. Diese verdammten Plattitüden! Wie ich sie hasse! Fast wie diese Klugscheißer, die mir sagen: “Es war sicher besser so.” Dass Lydia tot ist, meinen sie, weil es doch eine Erlösung gewesen sein müsste. Sechs Jahre Koma. Sechs Jahre sich ans Leben krallen. Ja, tot sein ist sicher besser für sie. Scheiß Sautrotteln, sollen doch ihr Maul halten!

Zornig werd ich über dieses “besser für sie”! Ich fühl mein Blut in meinem Schädel pochen, wenn ich das hör. Wie ein toller Hund will ich so einem an die Kehle gehen und dabei zusehen, wie er mit weit aufgerissenen Augen mich anstarrt, während er langsam röchelnd verreckt und dabei auf ihn sehen und sagen: “Besser so? Hm?”

“Ach, kleine Schwester!“, seufze ich leise. Du hast auch deine Kämpfe. Waren auch echte Scheißkerle in deiner Auswahl. Manchmal wünscht sie sich auch, ihr Leben wär anders verlaufen. Einen tollen Kerl, der sie unterstützt, der ihr Halt gibt, der was darstellt und sie liebhat. Mehr hätt sie auch nicht gewollt. Ich weiß das. Und wenn wir plaudern, und sie meint: “Aber jetzt, wer nimmt mich denn jetzt noch mit 43 und mit einem Ausgewachsenen und zwei kleinen Kindern?” Und dann sage ich: “Keiner, der bei Verstand ist, Sumsi. Nicht mal ich wär so dämlich.“ Sie bekommt dann immer so einen glasigen Blick. Ja, was denn? Soll ich sie belügen? Ihr etwas sagen wie: “Das wird schon!”? Sorry, Plattitüden gibts von mir nicht.

Ich lieb sie abgöttisch, meine kleine Schwester. Das weiß sie. Was sie nicht weiß, ist, was sie für ein Glück hat, dass sie die drei Blagen an ihr Herz drücken kann, wann immer sie will.

“Du musst nach vorne schauen!”, schreibt sie mir mit einem Kuss-Smiley.Ich schüttle den Kopf und lache manisch.