von Jökull
Nach Toren benannte Örtlichkeiten gibt es in Berlin zuhauf. Üblicherweise sind die Stadttore nach Orten in der Umgebung benannt, in deren Richtung sie ungefähr zeigen. Das einzige erhaltene ist das Brandenburger Tor. In seinem Fall könnte das Prinzip missverstanden werden, denn Berlin ist auf allen Seiten vom Land Brandenburg umgeben. Demnach hätte das Tor kreisförmig gebaut werden müssen, oder alle anderen Tore hätten auch Brandenburger Tor heißen müssen. Das Brandenburger Tor am Pariser Platz ist in westlicher Richtung gebaut worden und weist von der Dorotheenstadt ausgehend in Richtung der Stadt Brandenburg an der Havel. Deshalb der Name.
Meine erste Begegnung mit dem Brandenburger Tor hatte ich als Grundschüler. Ich weiß nicht mehr genau, ob es die Woche um den Tag der Deutschen Einheit am 17. Juni oder den Tag des Mauerbaus am 13. August war. Auf jeden Fall verteilte der Klassenlehrer silberfarbene Anstecknadeln mit dem Tor im Miniformat. Die Schüler sollten die Nadeln für eine Geldspende unters Volk bringen und das Geld in der Schule abliefern. Wohin es von dort weitergeleitet wurde und zu welchem Zweck, wurde den Schülern nicht gesagt.
Ich erinnere mich, als ich das erste Mal auf der Westseite des Brandenburger Tors stand. Es war Mitte der siebziger Jahre. Die Mauer führte in weitem Bogen um das Bauwerk herum und mehrsprachige Schilder warnten davor, sich dem östlichen Sektor zu nähern. Ich stand auf dem Besucherpodest, von dem aus auch Staatsgäste gelegentlich die triste graue Szenerie auf sich wirken ließen.
Einige Jahre danach fuhr ich mit der S-Bahn in den Osten zum Bahnhof Friedrichstraße. Von dort führte der Weg über den Boulevard Unter den Linden vorbei an den Botschaftsgebäuden der UdSSR und Polens zur Ostseite des Tors am Pariser Platz. Auch hier war das Gelände weiträumig gesperrt und bewacht. Einziger markanter Unterschied: die auf dem Tor thronende Quadriga mit dem Viergespann und der Siegesgöttin Viktoria auf dem Wagen war von vorn zu sehen.
Einige Jahre nach der Wende führte uns ein Trauerfall nach Ostdeutschland. Auf dem Rückweg entschloss ich mich mit meinen Eltern zu einem Umweg durch Berlin. Den Fernsehturm im Blick kamen wir ohne Straßenkarte dem Brandenburger Tor näher. Auf dem Pariser Platz drängten sich Menschen und es herrschte eine Atmosphäre wie auf dem Flohmarkt. Fliegende Händler boten den Passanten Uniformen und Mützen aus Beständen der NVA und der Roten Armee an. Damals war es noch möglich, das Brandenburger Tor mit dem Auto zu durchfahren. Die Mauer auf der Westberliner Seite war längst abgerissen und die Fernsehbilder von den Mauerspechten wurden in Erinnerung gerufen.
Seitdem war ich häufiger Mal am Brandenburger Tor, mal zu Fuß, mal mit dem Fahrrad oder auch mal mit dem Boot. An den Verlauf der Mauer erinnert heute eine ins Pflaster eingelassene Linie. An den seitlichen Flanken des Tores wurden neue Gebäude errichtet, sodass das Ensemble dem früheren Grundriss entspricht.
© Jökull 2022-02-13