von Goldberg
Wirklich froh bin ich darüber, dass es in meiner Kindheit und Jugend noch keine digitale Ablenkung gab. Wenn es fad war, dann war es fad. Das Fernsehprogramm auf vier Kanälen war überschaubar. Einfach rausgehen und Freundinnen treffen – etwas abgelegen am Land auch schwierig. Da halfen nur diverse Beschäftigungen und Hobbys. Eines davon war Stricken. Auch darum, weil man Pullover nicht so einfach kaufte und Stricken cool und „alternativ“ war.
Wenn ich mich heute über mich selbst ärgere, weil ich schon wieder so lange im Internet geschaut habe (ja, auch auf Story.one) und mir die ganzen digitalen Verlockungen zu viel werden, dann habe ich ein probates Mittel.
Ich suche mir Wolle und Stricknadeln, meine alten Kassetten und den Rekorder. Zum Glück hat das Kassettendeck seinen Geist noch nicht aufgegeben, wenn es auch schon manchmal etwas verdächtig quietscht. Ich lege die Kassette ein, drücke auf PLAY. Das Tonband läuft jetzt seelenruhig von einer Seite zur anderen. Keine Werbeunterbrechungen, kein schnelles Weiterdrücken. Alle Lieder von A nach B durch, egal ob’s ein Liebling von mir ist oder nur ein Lückenfüller.
Der Wollfaden wird automatisch um die Finger geschlungen, das Gehirn denkt: glatt, verkehrt, Umschlag, abheben, Randmasche. Die Finger machen das gleich ganz von alleine und das Gehirn ist frei, um auf die Musik zu hören.
Herbert Grönemeyer singt der Reihe nach seine genialen Lieder. Und das beste daran ist, mein Gehirn kennt noch immer alle Texte auswendig, die bekannten und die weniger bekannten. Und wenn ein Lied zu Ende ist, weiß ich in der kurzen Pause schon, welcher Instrumentaleinsatz folgen wird. Ich fühle mich willkommen in den frühen 90ern.
Richtig hineinversetzen kann ich mich in meine jugendliche Verliebtheit (Halt mich, Flugzeuge im Bauch) und den darauffolgenden Liebeskummer (Bist du taub?) Zwischendurch einmal kurz die Maschen gezählt. Bochum, Männer, Alkohol…haben wir das nicht alles im Bus auf dem Weg zur Wienwoche gehört? Dann Musik nur wenn sie laut ist richtig laut aufdrehen und schon muss ich grinsen, denn natürlich war Musik bei meinen Eltern nie laut. Es folgen unbekanntere Lieder seiner ersten Alben, aber nicht weniger eindrücklich und bewegend (Anna, Kino, Ich hab dich lieb…)
Herbert singt, ich singe mit und meine Finger stricken, sodass der Schal wächst und wächst. Und wenn dann noch eine Katze neben mir schnurrt, dann ist mir bald alles Virtuelle und Reale Total egal.
© Goldberg 2019-12-09