„Ich bin S@m“, sagte das Mädchen, das gerade durch das Comicfenster in seine Gummizelle geklettert war. „S @ M. Aber das @ ist am Ende stumm.“ Nein, bist du nicht. Weil du nichtwirklich bist, wollte Nathan sagen – doch sein Mund kam ihm zuvor: „Hi, ich bin Nathan. N A T H A N. Aber das H ist stumm. Und ich bin taub.“
„Ich fühle mich auch oft taub“, antwortete S@m. „Aber mehr in der Seele als in den Ohren.“ „Das tut mir leid“, sagte Nathans Mund. „Quatsch!“, erwiderte S@m. „Das ist herrlich. Besser als der ganze Scheiß, den ich sonst fühle. Wegen dem bin ich nämlich hier. Und du?“ Nathan starrte S@m an. „Weil ich Wahnvorstellungen habe“, sagte er dann. „Oh!“ S@ms Stimme klang ungläubig. „Wie stellst du dir den Wahn denn vor?“
Nathan seufzte, weil sein Verstand befürchtete, dass er ihn jetzt endgültig verloren hatte. Doch sein Mund sagte: „Wie einen magischen Walkman. Den ich hören kann, obwohl ich taub bin.“ Er zögerte. „Oder ein bezauberndes Mädchen. Das ich sehen kann, obwohl ich in einer verriegelten Einzelzelle in der Forensik sitze. Wo Besuch nicht erlaubt ist.“
„Oh!“ S@m sah sich um. „Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.“ Dann grinste sie. „Wenn ich eine Wahnvorstellung wäre…“, sie kniete sich zu ihm aufs Bett, „…könnte ich dann das?“ Sie beugte sich vor und leckte ihm quer über die vernarbte Wange. Er konnte die Wärme ihrer Zunge spüren, die Nässe ihres Speichels, und das metallische Kitzeln ihres Zungenpiercings. Es fühlte sich wirklich wirklich an.
„Ich weiß, warum du wirklich hier bist“, sagte S@m, und rückte ein Stück näher. „Und warum?“, fragte Nathan, und rückte ein Stück weg. „Weil du es spüren kannst“, antwortete S@m. „Wenn die Wirklichkeit dünn wird. Wie deine Lieblingshose am Knie. Die meisten Leute bügeln dann einen Flicken darüber. Andere kaufen eine neue. Und ganz wenige nehmen eine Zickzackschere und schneiden sie auf.“ Sie machte eine schnipp-schnappende Handbewegung. „Dieser Walkman, von dem du gesprochen hast, war deine Zickzackschere.“
„Und das hier…“, S@m deutete auf einen quadratischen Kasten mit runden Drehknöpfen, der plötzlich auf ihrem Schoß lag, „… ist meine.“ „Eine Zaubertafel?“ Nathan lachte. „Eine verzauberte Zaubertafel“, entgegnete S@m. „Sie macht Dinge wahr, die ich male.“ Sie deutete auf das offenstehende Kreide-Fenster in Nathans Zellentür.
„Hast du die auch aus diesem Laden?“, fragte Nathan. „EINSAM?“ S@ms Blick wurde finster, als hätte ihre Seele die Gardinen zugezogen. „Dein Walkman ist von EINSAM?“ Nathan wollte nicken, doch S@m hatte ihn bereits am Kragen gepackt. „Wo ist er?“, zischte sie. „Weg.“ Nathan schnappte nach Luft. „Geschlossen!“ Doch S@m ließ nicht locker: „Wo? Kannst du mich hinbringen?“
„Theoretisch ja“, stammelte Nathan. „Nur müssten wir dafür“, er deutete auf die Wand, „erst mal hier rauskommen: 2 Meter Zement. Im 3. Stock!“ Doch da hatte S@m mit ihrer verzauberten Zaubertafel bereits ein Nathan-und-S@m großes Loch in die Wand hinein gemalt. Und eine Strickleiter.
© Christian Papesch 2022-08-25