von Rookie
Im Traum sitze ich am Steuer eines Autos und drehe den Zündschlüssel. Nichts passiert. Ich steige aus und öffne die Motorhaube. Der Motor ist verschwunden, der Raum randvoll gefüllt mit türkisen, glitzernden Tränen. Ich gehe zum Heck des Wagens und öffne den Kofferraum. Auch hier türkise Tränen bis zum Rand. Ich greife in den Kofferraum, taste herum und halte den Radmutternschlüssel in meinen Händen. Wieder hinterm Steuer starre ich vor mich hin. Ich schrecke hoch, weil ein Kopf beim Seitenfenster erscheint. Er ist es und schaut mich ausdruckslos an. Ich kurble das Seitenfenster herunter, hole aus und schlag den Radmutternschlüssel mit Wucht mitten auf seine Stirn. Wie ein drittes Auge erscheint ein sechseckiges Mal. Er sieht mich regungslos an, rührt sich nicht von der Stelle. Ich hole erneut aus und schlage immer und immer wieder zu. Ich bin wie in Rage. Irgendwann spritzt Blut aus dem sechseckigen Mal. Er sieht mich regungslos an und rührt sich nicht von der Stelle. Ohnmacht.
Ohne Motor fehlt der Antrieb. Ich muss mich zu allem zwingen, nichts geht leicht. Dumpfe Wahrnehmungen, stumpfe Gefühle, Teilnahmslosigkeit. Nachträume gehen in schmerzliche Tagträume über.
Die täglichen Routinen geben kurz Halt, bevor die nächste Trauerwelle über mich hereinbricht. Seit Tagen schließe ich im Büro meine Tür, damit die Anderen meine Tränen nicht sehen. Ich will nichts erklären.
Die Trauer sitzt in jeder Zelle und bahnt sich ihren Weg. Nichts kann die Tränen aufhalten. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit, verliere keinen Gedanken an mein Leid. Und trotzdem brechen die Tränen hervor. Kurz danach versiegen sie, nur um nach einiger Zeit erneut hervorzubrechen. So geht es Stunde für Stunde, Tag für Tag.
Die Nacht ist schwül. Ich schlafe schlecht und steh auf, um das Fenster zu öffnen. Meine Füße werden nass, der Boden ist überflutet. Das türkise Tränenmeer glitzert im Mondschein.
Am Nachmittag muss ich zum Chef. Ich nehme in seinem Büro Platz und er fragt mich, wie es mir geht. Verdammt! Wieso nur diese Frage? Ein Kloß sitzt in meinem Hals und lässt kein einziges Wort durch. Tränen brechen hervor. Mein Chef holt ein Glas Wasser. Als er zurückkommt, habe ich mich beruhigt. Ich erzähle ihm von meiner Überlastung und er glaubt mir.
Zu Hause schalte ich die Kaffeemaschine ein. Der Reinigungsprozess startet, das Wasser tropft in die Auffangtasse. Als ich wieder in die Küche komme, bedeckt ein türkises, glitzerndes Tränenmeer den Boden. Ich bereite einen Kaffee zu und setz mich damit auf die Terrasse. Das Zwitschern der Vögel klingt dumpf. Stumpfe Gefühle. Teilnahmslosigkeit. Gleichförmigkeit. Trance.
Wieder wache ich in der Nacht auf. Ich höre Wasser tropfen und gehe ins Bad. Der Wasserhahn läuft, der Boden ist bedeckt von einem glitzernden, türkisen Tränenmeer. Die Tränen fließen über den Bodenablauf ab. Die Vorstellung, dass ein Loch im Boden alle Tränen versiegen lässt, erzeugt in mir ein beruhigendes Gefühl. Welch einfache Lösung
© Rookie 2022-02-25