Trauerrede über das Erwachsenwerden

Hanna Frost

von Hanna Frost

Story

Fühlt es sich für euch nicht auch so an, als wäre man gerade noch ein Kind gewesen? Als wäre es erst einen Monat her, dass man im Haus die besten Verstecke gesucht oder heimlich mit einer Taschenlampe unter der Decke gelesen hat, damit die Eltern nicht merkten, dass man noch nach 12 Uhr wach war, obwohl am nächsten Tag Schule war? Fühlt es sich nicht an wie letzte Woche, als man am Vortag vor Weihnachten nicht schlafen konnte, weil man so aufgeregt war? Alles fühlte sich magisch an. Manchmal, wenn ich meine Gedanken gleiten lasse, kann ich das Gefühl noch spüren. Es wieder heraufbeschwören. Und für einen kurzen, kleinen Moment fühlt sich die Welt wieder magisch an, Wunder existieren noch, und die Farben leuchten heller. Und wir konnten es kaum erwarten, erwachsen zu werden. Aber das liegt wohl in der Natur des Menschen, etwas kaum erwarten zu können. Zum Beispiel kann ich es kaum erwarten, dass endlich der Sommer kommt. Als Kind vergeht die Zeit so langsam und es fühlt sich auch jetzt noch manchmal so an. Der Januar war gefühlt drei Monate lang, aber war nicht gestern noch Januar? Man sehnt sich immer nach dem Sommer, aber manchmal meint man den Sommer vor acht Jahren. Damals, als man zum ersten Mal Alkohol getrunken, den ersten Kuss erlebt und das erste Mal die Nacht durchgetanzt hat. Ich habe mich so erwachsen gefühlt damals und gleichzeitig war das Erwachsensein noch so weit entfernt. Manchmal fühle ich mich immer noch wie 16, aber gleichzeitig kommen mir 16-Jährige jetzt so jung vor. Ich bin eigentlich zu alt, bei jedem Problem meine Mutter anzurufen, aber ich fühle mich zu jung, um meine Probleme selbst anzugehen. Ich stelle mir oft die Frage, ab wann man wirklich erwachsen ist. Denn mittlerweile bin ich erwachsen und das nicht erst seit letztem Monat oder letzter Woche, sondern schon eine ganze Weile. Sechs Jahre, um genau zu sein. Und manchmal halte ich inne und frage mich, ob das alles ist. Früher, als Kind, wollte ich endlich erwachsen werden, damit die Erwachsenen auch auf meine Meinung hören und mir zuhören. Nun bin ich erwachsen und sie hören mir trotzdem nicht zu. Muss ich vielleicht noch erwachsener werden? Oder wann soll diese Grenze sein, ab welcher man wirklich erwachsen ist? Ist man erwachsen, wenn man erkannt hat, dass das Erwachsensein nur eine Aneinanderreihung von Problemen ist, die eine Lösung suchen? Sobald man das erste Problem gelöst hat und kurz durchatmen kann, sind schon wieder zwei neue aufgetaucht. Manchmal habe ich Angst, dass es immer so weitergeht. Ich will mir keine Gedanken über die Stromrechnung machen müssen oder welcher Handytarif der beste ist. Ich will mir Gedanken darüber machen, ob ich mich morgen mit meinen Freunden im Park treffen kann, obwohl es regnen sollte, oder welche neuen Buntstifte ich haben möchte. Ich möchte mir keine Gedanken darüber machen, wo das Geld für die Buntstifte herkommt. Aber ab einem Punkt kann man nicht mehr zurück und so sehr ich mich anstrenge, ich kann den Zeitpunkt nicht festmachen. Aber wenn es allen Erwachsenen so geht, dass sie sich eigentlich nicht erwachsen fühlen, gibt es dieses Erwachsensein dann überhaupt? Oder ist es nur ein Märchen wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase? Als Kind hat man doch auch ohne darüber nachzudenken daran geglaubt.


© Hanna Frost 2024-06-15

Genres
Humor& Satire, Lebenshilfe
Stimmung
Emotional, Reflektierend