Träume aus Glas (11)

EugenS

von EugenS

Story

Was versäume ich, wenn ich nicht den ganzen Tag träume? Mein erstes Konzert. Arena, Wien, Nino von ebendort. Du musst wissen, es ist beschwerlich für mich, Konzerte zu besuchen. Ich bin krank. So nennen es die anderen. Es hindert mich, Gewisses zu erleben, es hindert mich nicht, das Wichtigste zu erleben. Zu träumen. Wo ist schon der Unterschied zwischen einem Traum und einer realen, verblassten weil vergangenen Erinnerung?Meine Knochen sind aus Glas. Natürlich nicht wirklich, es sind Knochen, doch sie brechen bei der flüchtigsten Berührung. Schon als Kind war es so, ich, anders als andere. Ich nahm diese Diskrepanz nicht bewusst wahr, erst jetzt, aufgrund des sich in der beginnenden Adoleszenz unauffällig anschleichenden Drang zur Selbsterkenntnis, denke ich darüber nach, was sie in mir bewegt. Mein Umfeld registrierte diese Anomalie nämlich sofort, die Kinder zuerst nicht, doch unsere Gesellschaft und ihre Konventionen, die auf sie eingehämmert werden, bewegten sie dazu, mich als anders zu definieren. Ihre Eltern wiesen sie an, besonders nachsichtig mit mir zu sein und besiegelten so meine Andersartigkeit. Nicht die Erkrankung selbst.Erlebnisse entgehen mir. Von Zeit zu Zeit betrübt mich das, ich fühle mich allein, ich flüchte. In meinen Kopf, meine Fantasie, meine Träume. Sie sind der Schlüssel zu dem, was die Menschen gemeinhin Freude nennen, der Anker, der verhindert, dass ich auf offenes Meer treibe, mein Licht in einer mondlosen Nacht. Kitschig, nicht? Solange mir meine Gedanken gehören, bin ich reicher als man es in Geld, Ruhm oder Macht messen kann. Meine Träume haben ihre Daseinsberechtigung, ihre Daseinsverpflichtung. Sie tragen mich in ferne Welten, zu fremden Menschen, hinein in andere Leben. Wo die hinsteuern, die meinen, Träumereien seien Zeitverschwendung? Sie vermissen Ereignisse, die in ihrer Realität nie geschehen sind, so sehr, anstatt einfach von ihnen zu träumen. Keine Zeit für den Wegesrand, mit aller Kraft muss ihr Weg zum Ziel gebracht werden.Wie kann das Ziel wichtiger sein als der Weg, wenn das Ziel der Tod ist? Mein Bruder liebt es zu klettern. Ganz der Papa. Auch wenn er es nie zugeben würde, bemitleidet er mich. Ich kann nicht mit ihnen in die Welt hinausziehen, um die steilste Wand zu überwinden. Den höchsten Gipfel zu erklimmen. Ich selbst bemitleide mich nicht. Denn in diesen Momenten träume ich.

© EugenS 2021-08-08