von Jörg Gschaider
Ich befand mich bei strahlendem Sonnenschein, bei Kaiserwetter, auf dem Dach eines Hochhauses. Der Rand des Daches war mit keinerlei Brüstung versehen. Von diesem Rand aus blickte ich in die Tiefe, hinunter auf die Straße. Ziemlich klein sahen die Autos im Stadtverkehr aus. Mir gefiel der Anblick auf Anhieb und die Miniaturen ganz weit unten übten eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Praktisch aus dem Nichts hörte ich eine Stimme:
„Spring doch! Wenn Du nämlich jetzt springst, kannst einige Sekunden freien Flug genießen. Ein unglaubliches Gefühl, glaub mir. Einfach herrlich! Den Aufprall kriegst wegen des Übermaßes an Adrenalin gar nicht mehr mit und dann ist der Kampf zu Ende. Muss ich Dir erst eine Rehaklinik zeigen? Oder eine Palliativabteilung, eine Nervenheilanstalt? Du weißt doch, wie es läuft! Spring und es können keine Katastrophen mehr auf Dich zukommen. Du wirst keine Schmerzen mehr haben. Niemals! Der Preis dafür ist denkbar gering: Alles, was Du geben musst, ist für den Bruchteil einer Sekunde Deine Überwindung. Für einen letzten Hochgenuss!“
Ein weiterer Blick von der Kante des Hochhauses überzeugte mich beinahe. Ein Flug ins Nichts, die Erdanziehungskraft hautnah spüren, ganz ohne jede Sicherung. Was für ein Erlebnis für den Preis einer klitzekleinen Überwindung! „Was für ein geiles Angebot“, dachte ich. „Aber wo ist der Haken? Irgendwo MUSSdoch ein Pferdefuß stecken!“
Und während ich über die Offerte sinnierte, färbte sich der Himmel golden. Eine andere Stimme sprach aus dem plötzlich so herrlich gefärbten Himmelszelt: „Wenn du darauf eingehst, brauchst MICH nicht mehr anzureden!“
„Ok, verstanden! Ich werde über das Angebot nicht weiter nachdenken!“
Bildquelle: Pexels/ sergio souza
© Jörg Gschaider 2021-05-23