TraumfÀnger

Stella

von Stella

Story

Ein TĂŒmpel ist noch kein Meer. Zwei Äste noch kein Baum. Und drei SĂ€tze sind noch keine Geschichte. Aber wenn sie gelungen sind, enthalten die ersten drei SĂ€tze schon die ganze Geschichte. Aus wenigen Ästen kann man ihre Herkunft lesen. Und eine PfĂŒtze verrĂ€t ihren Ursprung. Wenn sie die Wolken spiegelt im letzten Licht.

Aus einer Wohnung hört man Kirchenmusik. Der Spielplatz bleibt leer. Keine Kinderstimmen. Nicht einmal KrĂ€hen. Sie machen wahrscheinlich Urlaub im Park am See. Hocken krĂ€chzend auf der Krone breit verzweigter BĂ€ume. Jagen frech bellende Hund, wenn sie tief ĂŒber ihre Köpfe fliegen.

Der November legt sich wie ein nasses Tuch ĂŒber das Gesicht der Stadt. Die sich unter den Böen tiefer duckt. Wer kann, bleibt heute zu Hause. Die anderen haben ein Ziel. Wie die Ă€lteren Herrschaften im engen Durchgang zwischen den Hausfassaden. Er trĂ€gt Joggingschuhe unter der Anzughose und sie modische Schnallenstiefel unter dem kniekurzen Rock. Hell wird es heute nicht mehr.

Im grellen Orange, zwei schwarze Streifen an der Seite, leuchtet die Regenhose eines Gehwegwanderers. Auf dem RĂŒcken trĂ€gt er einen dicken schwarzen Trekking-Rucksack und zwei Skistöcke, die waagerecht in seiner rechten Hand pendeln. Vier MĂŒlleimer und ein weg geworfener BĂŒrostuhl trennen den BĂŒrgersteig von der Straße. Autos im Stop and Go vor der UnterfĂŒhrung.

Rechterhand eine mannshohe Böschung. Oben ein Friedhof. Am Metallzaun hĂ€ngt ein großer TraumfĂ€nger. Können Tote trĂ€umen? Durch die Maschen sieht man auf einen glatt polierten Granitstein. „Vogelsang“ steht darauf. Kein Vorname, kein Geburts- oder Todesdatum. Warum hören Vögel nur Ende Juli auf zu singen?

Im Laub raschelt ein braunes FellknĂ€uel. Ein Hamster. Er verschwindet hinter, besser unter einem Grabstein in einem handbreiten Loch zwischen zwei Ziegelsteinen. Sein Bau fĂŒr den Winterschlaf? Es ist plötzlich kĂ€lter geworden. Zeit ist es schon lange. Im kleinen Glashaus der FriedhofsgĂ€rtnerei warten ĂŒbrig gebliebene Gestecke von Allerheiligen auf KĂ€ufer.

Am Eingang der BahnunterfĂŒhrung zieht ein Raucher die letzten ZĂŒge an seiner Zigarette. Mit dem Blick auf das Schild ĂŒber dem Aschenbecher, das einen rauchfreien Bahnhof verspricht. Die Ansage vom Bahnsteig ruft die FahrgĂ€ste zum Einsteigen. Auf blauen Leuchttafeln die Zeiten der nĂ€chsten Abfahrten in weiß. Treppauf kommt eine Oma, die ihrem Enkel eine weiße MĂŒtze mit schwarzen Sternchen ĂŒber den Kopf streift.

Ein dunkelhĂ€utiger Mann mit Stock geht schwer und sehr langsam ĂŒber den FußgĂ€ngerĂŒberweg. Auf einem Autodach parkt eine halbe Mandarine. Dem Kind von einer Mutter aus der Hand genommen, aufs Dach gelegt und vergessen? Im Rinnsteig liegt ein zersplitterter Außenspiegel. In dem sich der Himmel spiegelt. Ein Kaleidoskop in Grau.

Ein Skistock macht noch keinen Schnee. Ein Wort noch keinen Vogelsang. Und ein Himmelsspiegel noch kein wolkenloses Blau. Aber manchmal wird aus ein paar SĂ€tzen doch eine kleine Geschichte.

© Stella 2019-11-12