Traumtagebuch – 22. Eintrag

Anika Schäfer

von Anika Schäfer

Story

In der vergangenen Nacht war mein Traum-Ich auf hoher Mission unterwegs. Ihr Ziel: riskante Verfolgungsjagden im Sinne der Gerechtigkeit. In diesem speziellen Fall waren mir alle Mittel recht, um einen Transporter gefüllt mit Rindern zu stoppen, die sich auf dem Weg zum Schlachthaus befanden. Ohne Skrupel war ich also des Nachts unterwegs und sprang während voller Fahrt auf der Autobahn von einem Lastwagen zum nächsten. Ich hatte vor, durch eine Klappe an der Decke in mein Zielobjekt einzusteigen. Der eisige Wind knatterte in meinen langen Dreadlocks, die hinter mir her flatterten … warum auch immer mein Unterbewusstsein mir im Traum solche andichtete.

Beim entsprechenden Transporter angekommen, erlebte ich eine herbe Enttäuschung: Man hatte mir falsche Daten übermittelt, und die Tiere traten bereits den Rückweg von ihrem verheerenden Abstecher an – beziehungsweise das, was noch von ihnen übrig war. Der Gestank im Inneren des Lastwagens war ekelerregend. Es roch nach Blut, Angst und Versagen. Die leblosen Tiere starrten mir mit roher Haut entgegen, die Augenhöhlen leer. Entsetzt und wütend strich ich durch den Transporter und dachte über die vielen Dinge nach, die auf diesem Planeten falschliefen. Es waren eine ganze Menge.

Da mir schon immer jene Lebewesen besonders am Herzen lagen, die über die geringsten Rechte verfügen, kam mir in erster Linie die ungerechte Behandlung der Tiere in den Sinn. Ich wollte nicht sentimental vor mich hin schwadronieren – immerhin war ich in diesem Traum eine Kämpferin, eine Kriegerin, eine Diebin, immer auf der Suche nach dem nächsten brandgefährlichen Auftrag –, doch ich konnte schlichtweg nicht anders. Vor allem eine Sache wollte sich mir nicht erschließen: warum der Großteil der Menschen nicht verstand.

Nicht verstand, dass Tiere ebenso ĂĽber ein Herz, eine Seele und BedĂĽrfnisse verfĂĽgen und demnach nicht anders behandelt werden sollten als Unseresgleichen.

Der Traum vollführte einen Sprung. Auf einmal fand ich mich in einer paradiesähnlichen Landschaft wieder, mit meiner gesamten Dreadlocks-flatternden Pracht. Das Gras unter meinen Füßen war saftig grün und duftete nach Frühling. In den satten, lebendigen Baumkronen rauschte der Wind. Daneben verharrte ein spiegelglatter See, der die vorüberziehenden Schäfchenwolken abzeichnete. Diese Szenerie war die Belohnung, war der Ausgleich für das Grauen, das mein Traum-Ich zuvor im Transporter erleben musste. Denn überall, wohin ich auch blickte, führten Tiere ein artgerechtes Leben. Enten tummelten sich am Ufer des Gewässers. Schwäne und Gänse nisteten im Schilfgras, welches das Ufer säumte. Die orangenen Schnäbel von Papageientaucher leuchteten mir von moosbewachsenen Felsvorsprüngen entgegen. Hasen mümmelten an den saftigen Grashalmen. Die Luft war erfüllt von Geschnatter, von Pfiffen und Gesängen. Und die Atmosphäre … Welch ein gewaltiger Unterschied im Vergleich zu den vorherigen Traumbildern! Das hier, das war das Paradies. Ein Paradies, das die Normalität darstellen sollte.


© Anika Schäfer 2025-04-12

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Reflektierend, Traurig