von Anika Schäfer
Inzwischen regte sich auch die Bulldogge. Ihr fehlte die Kraft, um aufzustehen, aber sie war nicht tot, Gott sei Dank!
„Es … es war meine Schwester.“ Die Reaktion auf meine Erkundigung war so leise, ein Hauchen im Wind, der über unseren Köpfen dramatisch die hellgrünen Blätter der Bäume aufpeitschte. Über diesem Morgen hing plötzlich ein Schatten, grau und erdrückend wie ein Bleimantel. Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Was?“, flüsterte ich entgeistert. „Aber …“
„Sie war es!“ Mit vorübergehend aufbäumender Kraft packte der junge Mann mein Handgelenk. Tränen hatten helle Spuren auf seine Wangen gezeichnet. An seinem Haaransatz lief ein Blutrinnsal entlang, ein erschreckender Kontrast zu seiner totenbleichen Haut. „Sie … sie tötet die Hunde, weil sie zu viel sehen. Und um …“ Das Sprechen fiel ihm schwer. Er schluckte und befeuchtete seine ausgetrockneten Lippen. „Und um keine Zeugen zu haben, entledigt sie sich auch deren Besitzer.“
Das, was er sagte, ergab für mich wenig Sinn. „Was sehen die Hunde?“ Ängstlich zog ich meine eigene Hündin auf meinen Schoß und hielt ihren kleinen, zitternden Leib so fest ich konnte. Der Gleichaltrige war dabei, zurück in die Bewusstlosigkeit zu gleiten. Ich bezweifelte, dass er mein Nachhaken vernommen hatte. „Sie sehen mehr“, wiederholte er, abwesend murmelnd wie ein Erkrankter im Fieberwahn. „Sie riechen mehr. Sie hören mehr. Sie nehmen alles wahr.“ Mit diesen abschließenden Worten schlossen sich seine Augen wieder. Mein Entsetzen weitete sich aus, wurde zu Stahlkrallen, die mich fest umschlossen. Die Schwester, diese freundliche Frau mit dem harmlosen Lächeln, die scheinbar kein Wässerchen trüben konnte, hatte also die Totschläge begangen. Sie war die schreckbehaftete Mörderin, die nicht nur ihre Mutter umgebracht, sondern dergleichen auch bei ihrem Bruder versucht hatte. Dies hatte ihr letzter Mord sein sollen, denn sie war weg, verschwunden, auf der Flucht. Sie musste alles geplant haben. Doch in ihrer Eile war sie weniger gründlich vorgegangen als bei ihren übrigen Anschlägen. Ihr Bruder lebte, die Hunde ebenso. Blieb die Frage, wie lange noch. Die beiden schwebten in Lebensgefahr, das war nicht zu leugnen.
Ich klammerte mich an die Hand des Gleichaltrigen und schloss die Augen. Wartete darauf, dass endlich, endlich der Notarzt eintraf. Betete, dass der Puls am Handgelenk nicht zum Erliegen kam und mein freundlicher Gastgeber, sobald es ihm wieder besser ging, zu einer ausführlicheren Erklärung ansetzen konnte. Momentan war er der einzige, der das Geheimnis seiner Schwester teilte.
Der den Grund kannte, weshalb scheinbar niemand mit einer SuperspĂĽrnase an seiner Seite diesen Wald betreten durfte. Â
© Anika Schäfer 2025-05-19