von Gossengoethe
Wie grottenschlecht kann man sein? Solide -5 auf einer Skala von 1 bis 10, die 1 bereits klar als „Zahnarztbohrer ins Trommelfell“ definiert. Fassungslos starre ich auf die Bühne, die durchs Fremdschämen eingefrorenen Gesichtszüge nur bewegt von seltenem Nippen am überteuerten, schalen Bier, in der aussichtslosen Absicht, mir dieses Fiasko noch irgendwie schönzusaufen.
Ich hatte ja nur lauwarme Erwartungen. Jemand gänzlich Unbekanntes, dessen erstes Lied „Kehlenfick, verweile doch“ heißt (vom ebenso elegant betitelten, selbst zu Hause auf CD gebrannten Debütalbum „Analdin und die wunde Schlampe“; zwar witzig aber viel zu viel des Guten) wird die Seligsprechung zum nächsten Dylan oder Clapton in diesem Leben eh nicht mehr empfangen, aber er ist schlicht und ergreifend so richtig scheiße. Abgehackte Akkorde in unzusammenhängenden Melodien, die Texte nur peinlich statt gezielt provokant (teils dem Erscheinungsbild des rothaarigen, großbebrillten Turnbeutelvergessers kaum Anfang Zwanzig geschuldet) und die Wechsel ins Falsett quietschend und nervig. Gute Musik muss auch mal von den alten ausgetretenen Pfaden abweichen, aber doch nicht so. Pfui, bäh, buh, pfeift ihn in Grund und Boden Leute.
Er scheint’s zu kapieren. Er ist ja nur Vorband (sofern man allein mit Gitarre schon eine Band sein kann?) und wir alle haben ihn zwanzig Minuten von den veranschlagten fünfzig geduldet, um danach was Richtiges zu sehen. Er schaut zum Clubbesitzer, der schon seit einer Weile das Mienenspiel eines mehrfachen Axtmörders zur Schau trägt, und zurück ins Publikum. „Gut, gut, ich breche hier ab, hilft ja alles nichts. Eins habe ich aber noch, das euch gefallen könnte. Ich widme es meiner guten Freundin Lena, weil sie heute Geburtstag hat. Ist auch nicht von mir, keine Angst. Wollte heute nur eigenes Material bringen, aber scheiß drauf.“ Lena wird sogleich von vierhundert hasserfüllten Blicken durchlöchert, aber na gut, Happy Birthday, Liebes. „Viele von euch kennen es sicher eh: My Immortal von Evanescence.“
Oho! Aha! Ein Raunen in der Menge. Wer den Song gerade nicht präsent hat, hier kurze Pause für einen Abstecher zu Youtube, denn das Lied wird mit seinen melancholischen Strophen und dem kraftvollen, verzweifelten Refrain schon von vielen Sängerinnen interpretiert dem Original nicht gerecht, geschweige denn von ihm, der Alle meine Entchen ruinieren könnte. Dazu dann noch das kunstvolle Klavierspiel auf der akustischen Gitarre zu covern, großes Kino obendrauf. Lasset ihn gewähren! Entweder er vergeigt es grässlich und wir lynchen ihn ohne Prozess am Dachbalken, oder er überrascht uns doch noch spontan mit Talent, als ob er…
Er kann. Felsenfest sitzt jede Note, er leidet in jedes Wort ein ganzes Leben voller Schmerz, für das er viel zu jung und unschuldig ist, zeigt ungeahnte rohe Power in der zuvor quäkend unsicheren Stimme, für die viele Profis eine Niere gäben. Lena weint hemmungslos, dem Veranstalter fällt die Kinnlade auf die Schuhe, das Publikum schüttelt sich vor wohliger Gänsehaut; eine ergreifende Szene, die man im Spätrenaissancestil malen müsste. Dann zieht er den Dolch aus unserem kollektiven Herzen und geht wortlos, begleitet von tosendem Applaus.
Der Bursche kann ja singen. Wie ein junger Gott. Er hat nur absolut kein Händchen dafür, sich selbst Songs zu schreiben. Sachen gibt’s!
© Gossengoethe 2023-08-19