von Brigitte Böck
Neulich rief mich Ingrid an, wir hatten sehr lange nicht miteinander telefoniert. Sie erzählte, sie hat beim Aufräumen ein Gedicht von mir gefunden, das sie an ihre Hochzeit erinnerte. Vor 8 Jahren hatte sie nach langem Zusammenleben ihre Freundin geheiratet. “ Weißt du noch”, sagte sie, “du hast damals dein Gedicht vertont und es vor dem Standesamt und allen Gästen vorgesungen und dazu Gitarre gespielt. Es war für uns alle eine riesige Überraschung und der Beifall war groß. Ich habe sehr an dich gedacht und nun möchte ich gern wissen, wie es dir in den letzten Jahren ergangen ist. Meine Frau ist vor 3 Jahren verstorben und ich brauchte lange, um mich in der Realität wieder zurechtzufinden. Können wir uns nächste Woche treffen, ich möchte dich gern zum Essen einladen. Wie wäre es mit dem Inder in Steglitz, das ist für jede von uns die halbe Strecke, denn ich bin sehr eingeschränkt und laufe an Krücken.” “Ich auch” sagte ich, „das machen wir, ich freue mich“.
Ingrid ist 86 Jahre alt, sehr einsam, denn sie hat keine Familie. Vor vielen Jahren hatte sie das Bundesverdienstkreuz für ihr soziales und politisches Engagement bekommen, auch da war ich eingeladen. So machte ich mich zu dem Termin auf den Weg und freute mich darauf, viel Neues zu erfahren. Wir kamen fast gleichzeitig an, fanden einen schönen Platz am Fenster, umarmten uns und sie hielt mich lange fest, die ersten Tränen bei Ingrid waren Ausdruck ihrer Freude. Wir saßen uns gegenüber, zwei alte Frauen mit einer sehr unterschiedlichen Geschichte, wechselten erst einmal ein paar belanglose Worte, dann kam der Ober für die Bestellung. Ingrid bat den Kellner, ihr etwas möglichst Weiches zu empfehlen, da sie Schwierigkeiten mit den Zähnen hätte. Wir bestellten unser Essen und die Getränke, meine Bekannte wollte zwei Gläser Wasser, eines mit Kohlensäure und eines mit Leitungswasser.
Erinnerungen wurden ausgetauscht, wir lachten auch über die ein oder andere Episode, dann kamen die Getränke und kurz darauf das Essen. Ingrid nahm ihr Gebiss raus und legte es in das Wasserglas direkt neben ihrem Teller und begann, mit großem Appetit zu essen. Mir stockte einen Moment der Atem, denn wenn ich zu ihr hinüberblickte konnte ich die Zähne in dem Glas nicht übersehen. Das Gesicht des Obers war entgleist, er hatte wohl einen Moment eine Schockstarre.
Sehr schnell habe ich mich gefangen und meine innere Einstellung verändert. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Bedürfnissen folgte, genussvoll aß und dabei zahnlos fröhlich plauderte, ließ in mir Freude und Bewunderung aufkommen. Sie war so frei von gesellschaftlichen Urteilen, in keiner Weise verunsichert und ich empfand es auch als Vertrauen, wie sie damit umging. Nach dem Essen setzte sie ihr Gebiss wieder ein, bat den Ober, das Glas wegzunehmen und wir setzen unsere Unterhaltung noch zwei Stunden fort. Ein interessanter Nachmittag, viele Erinnerungen, ich hatte etwas Neues gelernt und wir werden uns bald wieder treffen.
© Brigitte Böck 2023-03-15