von Lorenz Graf
Anfang der 1970er Jahre arbeitete ich als Kellner in einem Wirtshaus in Wien. Ich musste das tun. Es war eine der wenigen Möglichkeiten das Studium zu finanzieren und eine Familie zu ernähren. Unterstützung gab es keine und eine günstigere Wohnung von der Gemeinde Wien schon gar nicht. Das war ein Privileg der Parteigenossen. Ich arbeitete, wenn es das Studium erlaubte und wir wieder Geld brauchten, mehrmals in der Woche von 11.00 Uhr Vormittag bis 2.00 Uhr in der Früh durchgehend. Viel konnten wir uns nicht leisten, aber es reichte fürs Leben, für die Studiengebühren und für unsere zwei kleinen Kinder. Mein Verdienst als „Herr Ober“, ich war ja der einzige im Service, bestand aus 10 % vom Umsatz und dem Trinkgeld. Genaugenommen waren es nur 7 %, da der Krankenkassenbeitrag abgezogen wurde. Der Anteil des Trinkgeldes lag immer über 50 %, an manchen Tagen sogar bei 70 %. Das Trinkgeld war aber kein Geschenk, sondern musste „verdient“ werden. Ich habe den Gästen zugehört, wenn sie von ihren Sorgen oder Freuden erzählten, ich habe mit ihnen getrauert und gefeiert. Ich war „Beichtvater“, Auskunftsperson, Lebensberater, Psychiater und Saufkumpane. Ich habe den alten Schneidermeister über die Straße heimbegleitet, wenn wieder mal ein Viertel Wein zu viel für ihn war. Von der Witwe Wilma hatte ich das Viertel Wein nicht kassiert, wenn sie am Monatsende kein Geld mehr hatte. Bei Studenten war ich auch öfter nachsichtig was das Bezahlen betraf. Das schmälerte zwar meinen Verdienst bereicherte aber mein Wohlbefinden. Dem alten Tapezierermeister ließ ich öfter seine Zeche anschreiben im Vertrauen, dass er später bezahlen wird, was er auch immer tat, auch wenn einige Wochen dazwischen vergingen. Kamen Ehepaare durften die Komplimente an die Gattinnen nicht fehlen und ihre neue Frisur oder das Kleid wurden von mir gelobt oder bestaunt. Die beiden Hofratswitwen mit Handkuss begrüßen und oder zu verabschieden hat die alten Damen sehr gefreut. All das schlug sich im Trinkgeld nieder. Aber noch viel wertvoller war die Zufriedenheit der Gäste und ihre Freude, die mir dann entgegengebracht wurde. Das lieferte mir die Energie den ganzen langen Tag fit zu bleiben und nach einer Premiere mit den Schauspielern noch zu feiern und mit ihnen mehr zu trinken, als die Leber verarbeiten konnte. Auch für den „Peitscherlbua“ wärmte ich in der Küche noch die Gulaschsuppen, wenn er mit einer „Schönen der Nacht“ vom Gürtel noch vor der Sperrstunde aufkreuzte und sie Hunger hatten.
Es gab noch eine andere Seite zum Trinkgeld. Von Zeit zu Zeit war das Verlangen da, selbst der Gast zu sein. Es gab da ein Kaffeehaus, dass zu sehr später Stunde auch noch offen hatte. Dort traf ich mich öfter mit anderen Kollegen aus dem Gastgewerbe. Einen langen Tag waren wir gelaufen, hatten bedient und geschleppt, Tische abgewischt und Aschenbecher entleert. Jetzt waren wir selber die Gäste und genossen es, bedient zu werden. Obwohl wir stundenlang geschuftet hatten, um ein paar Schilling mehr zu verdienen oder vielleicht gerade deshalb, spielten wir die Großzügigen. Offensichtlich haben wir das gebraucht für unsere Psyche. Ein kleines Bier kostete nur wenige Schilling. Ich gab der Kellnerin, einer schon reifere Dame, einen 20-Schilling-Schein mit den Worten: „Stimmt schon so, Frau Rosi!“
© Lorenz Graf 2025-05-27