von Bianca Müller
Die ersten Jahre ging es not very british zu. Die meisten Kriegsgefangenen hielt Großbritannien außerhalb des Landes fest. Es gab alternativ genug Commonwealth-Staaten zur Auswahl. Von Kanada wussten wir – aber das war ja nur die Spitze der Rocky Mountains. Zurück auf Anfang: 22. Juli 1942. Wir sind in der ägyptischen Kleinstadt El-Alamein, in der seit drei Wochen das tobt, was Geschichtsbücher heute erste Schlacht von El-Alamein nennen. Auf der einen Seite: Großbritannien mit seinen Verbündeten. Auf der anderen: Die deutsch-italienischen Truppen unter Generalfeldmarschall Rommel. Und Opi Alfred. Der ist damals 20 Jahre alt und seit etwas über einem Jahr bei der Wehrmacht. Er ist Gefreiter und als Richtschütze eingesetzt. Rommel ist zuvor zu einer glorreichen Figur des Krieges aufgestiegen, sein Afrikakorps hat Tobruk erobert. Nahezu alles, was der Mann mit seinen Truppen anfasste, wurde zu Schutt und Asche. Und militärisch sind Schutt und Asche ja praktisch Gold. In jenem Juli änderte sich das, die Alliierten erzwangen ein Patt und etliche Gefangene, darunter Opi Alfred. In seine Heimat, das Schifferdorf Neuendorf im Kreis Crossen, 50 Kilometer von Züllichau entfernt, würde er nie wieder zurückkehren. Das konnte er nicht wissen, als er am 25. Juli in Camp 308 in Fayid am Bittersee, einem Teil des Suezkanals, ankam. Vier Tage später ging es weiter nach Fanara, Camp 307, immer noch Bittersee. Zu seinem Alltag dort weiß ich bisher nichts. Vielleicht kann man aber auch kaum von Alltag sprechen: Schon Mitte August saß er auf einem Schiff Richtung Kanada. Und wäre es nicht Kanadas Osten, würde ich schreiben, in Halifax/Nova Scotia kam beinahe Wild-West-Stimmung auf, denn auf die einmonatige Seereise folgten nochmal vier Tage Zugfahrt. Immerhin Richtung Westen. Zu diesem Zeitpunkt war das Camp in Lethbridge noch nicht fertiggestellt, weshalb die Gefangenen bis November im Übergangscamp 133 Ozada untergebracht waren. Man schlief in Zelten, meistens zu dritt oder viert. So dramatisch die Kriegsumstände, so idyllisch die Lage: direkt am Fuß der kanadischen Rocky Mountains. Das malerische Panorama war trügerisch, das Vorgebirgswetter streitlustig: Regenfälle, Schlammmassen, heftige Bergwinde und früher Schneefall drückten erst auf die Zelte und dann wohl immer mehr auch auf die Stimmung. Trotzdem etablierte sich damals eine Kultur, die Opi Alfred die nächsten Jahre begleiten sollte, wenigstens als Zuschauer: Sport-, Musik-, Theatergruppen fanden sich zusammen. Nicht zuletzt deshalb habe ich die britische Gefangenschaft zu Beginn ein Glück, wenn auch im Unglück, genannt – sie galt, vor allem in Kanada, als human, den Genfer Konventionen entsprechend. Nach dreieinhalb Jahren bestieg Alfredo im März 1946 abermals ein Schiff. Nach einer Woche verließ er die Mauretania in Liverpool oder Southampton. Eine halbe Stunde von Nottingham und nicht mal mehr ein Jahr von seiner Familie entfernt. Letzteres konnte er wieder nicht wissen. Vom Quorn Camp 183 im britischen Loughborough aus kam er in ein Lager in Lincolnshire: Pingley Farm. Auch das hatte eine Nummer. Natürlich! 81. In Sachen Militaria wird alles durchnummeriert, was nicht bei Drei auf dem Baum ist. Seine letzten POW-Tage verbrachte Opi im Januar 1947 in Brockley Camp 403 in der Grafschaft Somerset. Der nächste Weg war dann ein guter – der in die Freiheit.
© Bianca Müller 2024-03-11