U-Bahn-Geschichten

Stella

von Stella

Story

Manchmal muss man hinunter gehen, um wieder nach oben zu kommen. Alte U-Bahn-Weisheit. Zur Straße hinauf geht’s abwĂ€rts. ErklĂ€rt mir der weißhaarige Herr. Als ich mich irritiert nach dem Ausgang umschaue. Und mich in einer Sackgasse wiederfinde. Der einzige Ausweg: ein Aufzug nach unten.

„Rechts stehen, links gehen“ denke ich, als ich die Rolltreppe zur U-Bahn hinab fahre. Schalte automatisch auf Tunnelblick. Lass mich, Schulter an Schulter, weiter schieben. Schwimme mit durch die Menschen, deren Gesichter ich nicht mehr wahrnehme. Falle sofort in einen geschĂ€ftigen Laufschritt.

Neben mir ĂŒberholt mich ein Einkaufswagen. Vollbepackt mit PlastiksĂ€cken. Darauf gestĂŒlpt ein umgedrehter Stuhl mit hellbrauner Sitzschale aus gebogenem Holz. Die schwarzen Beine aus Metallrohren ragen in die Höhe. Dahinter schiebend die Silhouette eines hageren kleinen MĂ€nnchens vor weiß ĂŒberblendender Leuchtreklame. Er schaut durch die Stuhlbeine nach vorne und navigiert routiniert, wie schlafwandlerisch durch die Menge. Als wĂ€re es sein tĂ€glicher Weg von der Arbeit zurĂŒck ins Zuhause.

Wie die Menschen, die seinem GefĂ€hrt ausweichen und die jetzt in der Rush hour zurĂŒck fluten in ihr Heim. Sie strömen mir aus der U-Bahn entgegen. Ich lasse die Welle an mir vorbeischwappen. Bevor ich einsteige. Mit mir ein Blinder. Der sich neben mich stellt. Wo er sofort seine Armbeuge um die gelbe Metallstange legt. Um mit horchend gebeugtem Kopf den Stecker des Kopfhörers in sein Handy zu stecken. Er findet die Buchse völlig sicher, ohne zu tasten, obwohl sie nicht mittig, sondern seitlich angebracht ist, wie mir sofort auffĂ€llt. Er stĂ¶ĂŸt kurz an den vor ihm stehenden Kinderwagen, mit dem er nicht gerechnet hat. Als ihm die daneben sitzende Mutter ihren Sitzplatz anbietet, lehnt er dankend ab.

Ich steige um. Falle sofort wieder in meinen U-Bahn-Schritt. Die KlĂ€nge von zwei Akustik-Gitarren und einem Cello bringen mich aus dem Takt. Ich stoppe. Drei junge MĂ€nner jammen vor einem Wand-Graffiti. Der Cellist mit BĂ€rtchen sieht aus wie ein Musketier. Neben mir bleibt eine Mutter stehen. Sie gibt ihrer DreijĂ€hrigen ein paar MĂŒnzen. Die Kleine wackelt nach vorne und wirft das Geld stolz in den Hut.

Ich eile weiter. In der nĂ€chsten Bahn schimpft eine Mutter mit ihrer Tochter im Kinderwagen. Demonstrativ amĂŒsiert davon, wie geschickt das MĂ€dchen kichernd den FahrgĂ€sten ihre Handys aus der Tasche stiehlt.

Von irgendwoher spielt Brahms Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht 
“. Ein paar Töne von einer Spieluhr – und der mit Pendlern vollgestopfte U-Bahn-Waggon wird zum Kinderzimmer. Ich schaue kurz auf den schlafenden SĂ€ugling mit Schnuller im Mund, bevor ich aussteige.

„Von Englein bewacht 
“ summe ich im Kopf weiter. Und fĂŒhle mich augenblicklich gleich mit beruhigt. Lass‘ mich gelassen mit den Menschen zum Aufzug treiben. Wo ich daran erinnert werde, dass man oft nur kurz runterfahren muss, um nach oben und wieder zu sich zu kommen.

© Stella 2019-11-05