Über Begegnungen

Svenja Fojut

von Svenja Fojut

Story

Es gibt da diese Frau, die im Haus gegenüber von meinem wohnt.

Wir kennen uns nicht wirklich, aber manchmal treffen wir uns zufällig auf der Straße. Meistens ist mein Hund dabei.

Es ist faszinierend, denn die wenigen Begegnungen schenken mir so viele Eindrücke. Es sind kleine Kristalle, mal bunt, mal schwarz-weiß, die sich in meinem Kopf zu einem Bild zusammensetzen wie in einem Kaleidoskop.

Ich weiß, dass sie gerne gelesen hat und ein Bücherregal hat, dass ihr ganzen Zimmer füllt. Jeden Abend saß sie bis spät Nachts an ihrem Schreibtisch. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber ich bin mir sicher, dass sie dort schrieb. Dass sie Wörter ebenso sehr liebte, wie ich.

Ich bin mir sicher, dass sie fürsorglich ist, denn als ich einst nach einer Sportverletzung auf Krücken ging, kam sie das Treppenhaus heruntergelaufen, um mich zu fragen, was passiert sei und wie es mir geht.

Ich habe beobachtet, wie sich ihr Mann nach einem Schlaganfall zurück ins Leben gekämpft hat, aber dann trotzdem ins Heim musste, weil Mühe und Hoffnung manchmal leider nicht ausreicht.

Da waren so viele Fetzen, kurze Gespräche, kleine Einblicke.

Mittlerweile erkennt meine Nachbarin mich nicht mehr. Seit einem Unfall ist sie auf einen Rollator angewiesen, sieht nur noch schemenhaft. Ihr Gang ist schwerfällig und langsam, ihr Haar schütter und ihre früher so lebensvollen Augen sind starr und trüb auf den Boden gerichtet.

Ich konnte bislang nicht umhin, Traurigkeit bei ihrem Anblick zu empfinden. Doch heute erkannte sie meinen Hund. Sie sah sein schwarzes Fell, spürte seine kalte Schnauze und ein Lächeln stahl sich auf ihr fahles Gesicht. Sie wusste auch wieder, wer ich war und wie immer erzählte sie mir etwas von sich. Sie hätte so viele Gründe gehabt, mir ihr Leid zu klagen. Darüber zu lamentieren, wie ungerecht die letzten Jahre zu ihr gewesen waren. Aber sie tat nichts dergleichen. Stattdessen sagte sie: „Wissen Sie, ich hatte ein erfülltes Leben. Es hat ein ganzes Buch gefüllt. Und ich habe das große Glück, dass die Schönheit der unzähligen Seiten vorne und in der Mitte, über die Schmerzen der letzten hinwegtröstet.“

Ihre Worte haben mich tief bewegt und ich entschied, fortan, wann immer ich sie wiedersehen mag, keine Traurigkeit zu empfinden, sondern Dankbarkeit. Dankbarkeit darüber, dass sie mir so viel beigebracht hat, obwohl ich sie im Grunde nicht kenne.

© Svenja Fojut 2022-11-21

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