von Musenzeit
„Bring‘ mir den Stein dort drüben. Dann kannst du hier mitmachen.“
Die Aufgabe zur Aufnahme also. Ich wurde von meinen Freunden ja schon vorgewarnt, dass es ein Ritual geben würde. Eine Art Prüfung, um meine Motivation zu testen.
Gut. Also einen massiven Stein schleppen. Oder rollen. Oder was auch immer. Bewegen muss er sich nur, zum Trainer. Durch mich.
Die Gruppe fing an mit ihrem Training. Ich begutachtete das vom Trainer begehrte Objekt, ein echter Brocken von einem Fels. Mit einigen kraftvollen Handgriffen und ambitionierten Tritten versuchte ich, Bewegung in den Stein zu bringen. Keine Chance, er rührte sich keinen Millimeter. Wie kam der Trainer eigentlich nur darauf, dass sich dieses Monstrum von mir bewegen ließe? Die Zeit verrann, im Augenwinkel beobachtete ich die Gruppe. Mein Unmut und meine Ungeduld wuchs. Sisyphus lässt grüßen. Ich vertat kostbare Zeit mit dieser sinnlosen Aufgabe, befand ich schließlich. Dieser Brocken ließ sich nicht von mir bewegen. Aufgeben war keine Option. Spontan nahm ich einen gut tragbaren Stein, der neben dem Riesen lag, auf und brachte ihn zurück zum Trainer. Fest entschlossen, mich damit nicht abwimmeln zu lassen. „Der Große, den ich bringen sollte, lässt sich nicht bewegen. Aber dieser hier. Bitteschön. Ich möchte gerne mit trainieren.“ S. schaute mir prüfend in die Augen. Dann nickte er schließlich.
Ich stellte mich also auf die Wiese, in die Reihe aus Männern, Frauen und Jungen dazu. Der jüngste unter uns war etwa 10 Jahre alt. Sein Vater ist ein Arzt, ein Flüchtling aus Afghanistan. Etwas verloren wirkte er, dieser feingliedrige, verträumte Junge. Er war auf Wunsch seines Vaters dabei, erfuhr ich später.
S. blieb für uns ein Geheimnis, er sprach kaum über seine Vergangenheit. Ein Flüchtling aus dem Iran, durchtrainiert bis in die kleinen Zehen. Kung Fu To’A war es, was mir da durch ihn begegnete…
Zufällig kam ich bei meinem zeitlich begrenzten Aufenthalt in dieser Stadt durch Freunde in dieses Training. Eine körperlich willkommene Herausforderung nach einer mentalen Erschöpfungsphase. Nun hieß es: Blick zur Sonne. Den Körper und Geist kräftigen. Arme vor der Brust in Gebetsposition, die Knie hüftbreit auseinander und ab in die Hocke. „Also ein grand plié, irgendwie“, übersetzte ich automatisch, jahrelang Trainiertes bleibt in der Erinnerungspfanne kleben. Bis zu 20 Minuten ließ uns S. zu Beginn in dieser Position schwitzen, bis die Muskeln zitterten, als ob Winter wäre. Das war dann doch unbekannt… viel Unbekanntes folgte. Einige Augenblicke sollten wir in die Sonne blinzeln, denn „Sonnentränen reinigen die Augen.“ Die erste der sieben waffenlosen Formen, Ana To’A, wird geübt. Dann eine Stockform. Aus Eiche musste der Stock sein. Die billigen aus Weichholz gingen ja schon nach einigen Schlägen kaputt. Zitierte Lehrtexte und Geschichten, die fremdartig klingen, dazu Meditation am Ende des anstrengenden Trainings.
In der Ruhe der Abendsonne landen. Zurück in die Wohnung, der lange Kampfstock klapperte rhythmisch am Fahrradrahmen…
© Musenzeit 2024-06-30