Überholen und Vorausschauen am Mönch

Heinrich Lechner

von Heinrich Lechner

Story

Oberhalb der Einstiegspassage klettere ich mit meinen beiden Gästen Hans und Georg zügig im etwas leichteren Felsgelände weiter in Richtung Mönch-Gipfel. Es folgt leichteres Gehgelände. Ich nehme das Sicherungsseil über die Schulter auf. Einige lockere Schlaufen halte ich in der Hand. Es besteht keine Absturzgefahr.

Einige andere Gipfelaspiranten, allesamt ohne Bergführer unterwegs, gehen auch in diesem Gelände weiterhin am langen Seil, manche sichern sogar. Dies führt dazu, dass sich deren Seile an lockeren Steinen verheddern und diese losreißen. Auch kommen diese Bergsteiger langsamer, weniger zügig voran. Uns ist das sehr recht, denn so können wir rasch alle überholen und so auch dem gefährlichen, immer häufiger ausgelösten Steinschlag entkommen.

Wir bleiben kurz stehen, um die nächste Kletterpassage mit etwas Abstand von weiter unten zu betrachten. Die ersten Meter befinden sich in der Sonne, der Fels trocken. Danach führt die Route von hier nicht einsehbar um eine Ecke, auf die noch schattige Westseite des Grates. Aufgrund der allgemeinen Vereisung auf dem bisherigen Weg gehe ich aber davon aus, dass der Fels dahinter vereist sein wird. Wir legen also am Beginn der Kletterpassage, auch wenn sie noch trocken ist, unsere Steigeisen an. Das Seil wird wieder von der Schulter genommen und zur Sicherung vom Fixpunkt aus verwendet.

Klar ist das Klettern mit Steigeisen am trockenen Fels gewöhnungsbedürftig. Aber mit angepasster Technik finden wir plötzlich sogar Spaß daran, mit den scharfen Frontalzacken auf selbst millimeterkleine Leisten zu steigen. Ich blicke hinter die Kante! Prompt ist der Fels hier teilweise von einer dünnen Eisschicht überzogen.

Ich denke an die offensichtlich etwas unerfahreneren Bergsteiger von vorhin und bin mir nicht sicher, ob auch sie die Vereisung erahnen. So bitte ich meine beiden Begleiter, den nachfolgenden Seilschaften den Tipp weiterzugeben, rechtzeitig noch im leichten Gelände Steigeisen anzulegen. Bald erreiche ich den nächsten sonnigen Gratabsatz. Ich mache Stand und sichere am langen Seil meine beiden Klienten nach.

Alles richtig gemacht! Ein Zuviel an Ausrüstung oder falsch angewendet, kann durchaus hindern rascher voranzukommen oder sogar gefährlich werden.

Wir waren uns sicher, gefahrlos überholen zu können, haben die Chance erkannt und entschlossen genützt! Auch wenn uns unsere „Mitstreiter“ mit verdutzten, neidischen oder verzweifelten Blicken subtil verunsichern wollten. Ein solidarisches Einreihen in deren Warte-Schlange mit schlechtem Gewissen wäre hier fehl am Platz gewesen.

Wir haben innegehalten und vorausgeschaut, die Situation realistisch eingeschätzt und die Ausrüstung rechtzeitig angepasst. Auch, wenn wir unsere Technik für ein Stück des Weges etwas anpassen mussten. Es hat uns letztendlich dabei geholfen, den Rest des Weges gut zu bewältigen, als die Verhältnisse wie erwartet schwieriger und gefährlicher wurden.

© Heinrich Lechner 2020-06-29

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