Der Sommer summt. Der Nachmittag macht müde;sie atmete verwirrt ihr frisches Kleid und legte in die triftige Etüde die Ungeduld nach einer Wirklichkeit, …
Ich tauche ein in dieses Gedicht von Rainer Maria Rilke, lasse mich von der Musik der Sprache wegtragen in eine längst vergangene Zeit.
Ich sehe mich als junges Mädchen zu Hause am Klavier sitzen. Das Zimmer ist dunkel. Im Hintergrund sitzt mein Vater auf dem Sofa. Eine Pfeife rauchend und meinem Spiel lauschend. Ich kann seinen Blick im Rücken spüren. Ich möchte schön spielen. Ich lege all’ meine Kraft in die Etüden und Sonaten. Sehnsucht nach der Liebe meines Vaters. Ich möchte ihn erfreuen, meinen traurigen, vom Krieg traumatisierten Vater, der mir unerreichbar scheint trotz seiner körperlichen Anwesenheit. Er ist schon alt. Er hätte mein Großvater sein können. Manche Leute hielten ihn auch dafür. Das kränkte ihn. Er war schon einmal verheiratet. Hatte zwei Söhne aus erster Ehe. Er wollte eigentlich keine Kinder mehr. Das hörte ich ihn immer wieder sagen.
Ich empfinde eine sprachlose Liebe zu ihm. Sprechen können wir nicht miteinander. Die Worte finden uns nicht. Es bleibt die Hoffnung auf Musik. Sie verbindet uns ein wenig.
Ich spiele seine Lieblingsstücke: die „Mondscheinsonate” und „Abschied vom Klavier”. Beethoven. Ich möchte ihn erreichen, sein Herz berühren, das Eis in seiner Seele zum Schmelzen bringen. Ich möchte Vater-Nähe spüren.
Ich verbringe viel Zeit am Klavier, jeden Tag ein bis zwei Stunden, in diesem dunklen raucherfüllten Zimmer mit meinem unerreichbaren Vater in einer beklemmenden Sprachlosigkeit. Nur die Musik schlägt eine Brücke von mir zu ihm. Das fühlt sich gut an. Ein Augenblick Nähe, ein Augenblick Liebe.
Draußen blüht das Leben. Die Sonne scheint mit verschwenderischer Kraft. Sommerliches Badewetter. Es wirkt einladend auf mich, hinauszugehen. Zum See. Eintauchen in das kühle Nass. Eintauchen in das pulsierende Leben, von dem ich mich ausgeschlossen fühle.
Ich spüre Sehnsucht nach dem Leben draußen, nach Begegnungen mit anderen Menschen. Sehnsucht nach Freunden und Freundinnen. Wie eine Gefangene fühle ich mich plötzlich, eingesperrt in diesem dunklen Zimmer in der Hoffnung auf etwas Zuwendung und Aufmerksamkeit. Und Liebe, die nicht kommt. Weglaufen möchte ich. Weg aus dieser spannungsgeladenen Atmosphäre. Hinaus in die Welt. Den Wind in meinen Haaren spüren, die reine Luft einatmen, mich von meinen Füßen wegtragen lassen in eine andere Wirklichkeit, in der es Liebe, Hoffnung und Glück im Übermaß gibt.
Das Spielen macht mich müde. Zu lange sitze ich schon am Klavier. Meine Finger schmerzen. Mein Rücken auch. Noch eine letzte Sonate. Dann verlasse ich den Raum. Gehe hinaus ins Leben. Mein Vater bleibt in seiner Einsamkeit mit seinen Gedanken und unausgesprochenen Worten zurück.
Morgen am Nachmittag werde ich wieder spielen.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2020-11-07