Über dem Nebelmeer

Hannes Stuber

von Hannes Stuber

Story

Der weiße Hase würdigte mich keines Blickes, als ich mein Auto drei Meter vor seiner Nase einparkte, und kaute ungerührt sein novemberkaltes Gras. Reality check: nüchtern? Er konnte keine Halluzination sein, ich hatte seit Monaten keinen Alkohol getrunken. Außerdem hätte das mit kleinen weißen Mäusen beginnen müssen, nicht mit einem großen Hasen.

Ich trug die Schischuhe in den Keller und mein Gepäck ins Zimmer der Pension, in der ich Quartier bezog. Wie sich herausstellte, gehörten zwei frei laufende weiße Hasen zum Inventar der Pension. Ich war in Schladming, um nach sieben Monaten Pause wieder auf Ski zu stehen. Ich hatte von Leuten gehört, die sagten, sie wären mit 50 klüger geworden und hätten daher das Skilaufen aufgegeben. Mit 47 hatte ich beschlossen, dass meine neunjährige Tochter, als gelernte Österreicherin, schifoan können sollte. Allerdings war ich seit den Schultagen nicht auf Ski gestanden. Ich musste es erst selbst erlernen. Meine Tochter und ich gingen dann für drei Jahre in den Ferien Ski fahren. Danach flog sie mit mir lieber in europäische Metropolen statt in den Schnee.

Achtzehn Winter später. Ich hatte Feuer gefangen für das Gleiten über glitzernden Schnee. Und nun stand ich neben der Bergstation auf der Reiteralm und blickte hinunter auf ein Nebelmeer, das Schladming und das Ennstal verschwinden ließ: wie ein Stausee, dessen Wasser der Hochnebel war, der an die Küste, die Hänge der Berge schwappte. Unter den Wolken lebten die Menschen – im Nebelmeer ertrunken, im Feinstaub versunken, ohne es zu merken.

Sonne, blauer Himmel, Kaiserwetter. Das Dachsteingebirge, halb mit Schnee bedeckt, thronte gegenüber der Piste, die perfekt präpariert war, ganz wie es der distinguierte Kunde wünscht. An den ersten Schwüngen merkte ich, dass mein Körper ungeschickt und steif agierte. Nach zwei Stunden kam ich langsam rein in das Carving. Um ein Uhr hatte ich genug, meine Oberschenkel brannten und konnten dem Druck nicht mehr standhalten. Am Rand der Piste hatte man ein Terrain abgesteckt, wo die Nationalmannschaften trainierten. Für einige Zeit sah ich zu, wie die Rennläufer verdammt schnell den Berg hinab sausten, ohne Bremse, ohne Knautschzone, bekleidet nur mit einer Art hauchdünnem Pyjama.

Den zweiten Tag fuhr ich auf den Fastenberg, die Planai. Diesmal war es bewölkt, aber das störte mich nicht. Lediglich die Bodensicht war suboptimal, was immer ein Risiko darstellte, wenn man mit etwa 80 Sachen über die Pisten bretterte. Wie am ersten Tag waren nach vier Stunden meine Kräfte aufgebraucht, ich musste aufgeben. Es rächte sich, dass ich den Sommer über nie Sport machte.

Beim Hinunterfahren per Seilbahn, weil nur oben genug Schnee lag, entdeckte ich auf der Gondel vor mir einen großen gezeichneten Hasen, auf die Scheibe geklebt, mit gekreuzten Vorderbeinen, mich angrinsend. Schon wieder Bugs Bunny. Reality check: War ich nüchtern? Die anderen Gondeln hatten keinen Hasen aufgeklebt, nur jene vor mir.

© Hannes Stuber 2019-11-30