Über die Wupper gehen

Stella

von Stella

Story

Durch mein HeimatstĂ€dtchen fließt ein kleiner Fluss. Am Ufer siedelten sich mit der Industrialisierung Tuchwebereien an. Mein Urgroßvater war Weber. Er lief tĂ€glich mehrere Kilometer mit seinem Henkelmann zur Arbeitsstelle an der Wupper, erzĂ€hlte mir mein Vater. SpĂ€ter entstanden an der Wupper metallverarbeitende Betriebe. Mein Großvater arbeitete dort als Dreher.

Vom Ort auswĂ€rts floss die Wupper durch ein verwunschenes Tal, in das sich nur selten ein SpaziergĂ€nger verirrte. Was mich als Kind wunderte. Denn, obwohl etwas dĂŒster und unheimlich, fĂŒhrte der schmale Pfad an dichtbewaldeten HĂ€ngen mit bizarren Felsformationen entlang. Man lief mal diesseits, mal jenseits der idyllisch am Grund mĂ€andernden Wupper.

„Über die Wupper gehen“ heißt so etwas wie ĂŒber den Jordan gehen. Und ist eine der rĂ€tselhaftesten und interessantesten deutschen Redensarten. Die Liste der mehr oder minder glaubwĂŒrdigen ErklĂ€rungsversuche ist Ă€hnlich lang wie der Fluss selbst, der sich knappe 120 Kilometer durchs Bergische Land schlĂ€ngelt, bevor er in den Rhein mĂŒndet.

Eine Herleitung ist diese: 1852 zog das königlich-preußische Landgericht Elberfeld auf die sogenannte Gerichtsinsel in der Wupper. GegenĂŒber, aber jenseits der Wupper, wurde 1864 ein neues GefĂ€ngnis errichtet, das auch fĂŒr Hinrichtungen ausgerĂŒstet war (Fallbeil). Wer am Landgericht zur schlimmsten aller Strafen verurteilt wurde, ging ĂŒber die Wupper zum Richtplatz, um dort sein gewaltsames Ende zu finden.

Gewaltsam zu Tode gekommen seien im Krieg auch 3 russische Fremdarbeiter, erzĂ€hlte mir mein Vater. Erschlagen am Waldrand oberhalb des idyllischen Wupper-Weges. Der beim noblen Hotel Hammerstein begann, wo in den 50ern BerĂŒhmtheiten wie Inge Meysel, Peter Frankenfeld und Anneliese Rothenberger zu Gast waren. Erst in den 80ern errichtete ein KĂŒnstler privat eine Friedenskapelle zum Gedenken an die ermordeten Russen.

Die ganze Wahrheit erfuhr ich aber vor einigen Jahren. Nicht 3 Russen, sondern 44 Zwangsarbeiter liegen auf dem sogenannten „Russischen Friedhof“ meiner Heimatstadt begraben. Sie waren im „Lager Hammerstein Stalag VI F Bocholt 108“ interniert. In der ehemaligen Streichgarnfabrik im idyllischen Tal am Wupperwehr waren wohl mehrere Hundert Fremdarbeiter untergebracht.

Ab 1940 polnische und französische Kriegsgefangene und ab 1941/42 auch sowjetische Kriegsgefangene. Sie starben an UnterernĂ€hrung, Wassersucht, Fleckfieber oder Selbstmord oder wurden „auf der Flucht erschossen“. So die Totenscheine und SterbeeintrĂ€ge vom HĂŒckeswagener Standesamt. Der JĂŒngste war 17 Jahre alt, der Älteste gerade 36. Auch die an LeukĂ€mie gestorbene Jadokia Rasinjenko ist dort beigesetzt.

Seit ich davon weiß, hat â€žĂŒber die Wupper gehen“ eine neue Bedeutung fĂŒr mich. In den achtziger Jahren wurde das Tal fĂŒr die Wuppertalsperre geflutet. Nur wenn der Wasserstand sinkt, kommen die Grundmauern des Arbeitslagers wieder zum Vorschein.

© Stella 2019-08-18