Un-Sterblich?

Michelle Reznicek

von Michelle Reznicek

Story

Ich bin nie gestorben. Auch nicht ein bisschen.

Einmal, als Kind, bin ich auf den Parkplatz hinausgerannt. Ich habe nicht links und nicht rechts gesehen. Ich bin einfach gelaufen. Ein lautes Geräusch, ein Mann, der hektisch das Lenkrad seines Motorrads herumreißt und abrupt anhält. Festgefroren stand ich da, unfähig, ihm den Weg wieder freizugeben. Ich war wie gelähmt, als wäre die Zeit stillgestanden. Es waren noch zwei Meter. Aber eines war sehr klar: Ich hatte verstanden, was „sterblich“ bedeutet. Der Tod ist nur einige Sekunden entfernt. Er umgibt uns immer. Eines Tages wird er uns einholen, trotz unseres innigen Glaubens, unsterblich zu sein.

Menschen glauben, sie seien unsterblich.

Dieser Glaube ist sehr verbreitet. Ich sehe ihn jeden Tag. Menschen, die mit dem Kopf im iPhone auf die Straße „latschen“. Menschen, die am Straßenrand herumalbern. Menschen, die nur noch „schnell“ mit dem Auto vor der Straßenbahn über die Gleise fahren müssen. Menschen, die mit beiden Händen in den Hosensäcken Fahrrad fahren. Der Glaube an unserer Unsterblichkeit ist fest in unseren Köpfen verankert. Jeder stirbt, sagen wir. Nur wir selbst nicht. Vermutlich, weil wir uns eine Welt ohne uns nicht vorstellen können. Nicht, was vor uns war, nicht, was ohne uns sein wird. Wir denken, also sind wir. Sind wir nicht, gibt es kein Denken mehr.

Ein Leben ohne meine Lieben kann ich mir nicht vorstellen. Am Schwierigsten ist es bei jenen, die vor uns da waren, ein ganzes Leben lang da waren. Sie sind so unverrückbar in unseren Köpfen, dass wir völlig unterschätzen, wie wichtig sie für uns sind. Wir sind verschwenderisch mit gemeinsamen Momenten. Wir sind verschwenderisch mit unserer Zeit, mit unserem Leben. Ein einziger Augenblick kann uns alles nehmen. Und wenn es nicht plötzlich und unerwartet kommt, dann holt uns die Zeit am Ende doch ganz sicher ein. Selbst wenn wir alles richtig machen, allem das richtige Maß an Wichtigkeit zumessen, selbst wenn wir uns Zeit nehmen, die Zeit verrät uns. Sie rinnt durch ein riesiges Stundenglas. Ich kann es spüren. Besonders jetzt, in diesem Augenblick, in dem ich meine tote Katze in den Armen halte und bitterlich weine. Der Moment ist so kurz. Und doch gnadenlos in seiner Endgültigkeit. Alle Wege führen hin. Keiner zurück.

Eines Tages werden alle die Meinen auf der „anderen Seite“ sein. Und mit jedem Gewicht, das sich auf die andere Seite verschiebt, wird auch mein Stand auf dieser Seite, in dieser Welt, ein wenig wackliger sein. Bis ich eines Tages – eines nahen oder fernen, wer weiß das denn schon – loslasse und von diesem schönen Erdball verschwinde. Die Sonne wird ohne mich aufgehen, so gleichgültig, wie sie es getan hat, bevor es mich gab. Ich gleite auf die andere Seite. Doch es wird nicht mehr so schlimm sein. Denn viele von den Meinen werden schon dort sein. Ganz egal, was es ist, was uns erwartet. Sie werden dort sein. Und wenn irgendetwas von Liebe und Barmherzigkeit wahr ist, dann werde ich wieder bei ihnen sein.

© Michelle Reznicek 2022-03-23

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