von Silvia Peiker
Solange wir noch nicht zur Schule gingen, genossen Petra und ich viele Freiheiten. Unter den Fittichen der älteren Nachbarsmädchen zogen wir in den Nachmittagsstunden um die Häuser, ohne die Fesseln des noch in der Ferne schlummernden, digitalen Zeitalters. Wir wussten, dass wir wieder bis zum Abendessen daheim sein mussten, und unsere Großeltern, die für uns sorgten, während unsere Eltern ihrer Arbeit nachgingen, vertrauten darauf, dass wir als Gruppe zusammen blieben. Kein Handy konnte uns orten, denn damals gab’s nur Vierteltelefone mit Kabel und Wählscheibe in den Haushalten. Die heutige Jugend, die mit dem Multitasking-Technikwunder Smartphone aufwächst, würde diese vorsintflutliche Art der Nachrichtenübermittlung wohl mit den weithin leuchtenden Signalfeuern der Wikinger oder den dröhnenden Trommeln der Indianerstämme vergleichen.
Klingelton gab es nur einen einzigen, und der war laut, und wenn man Pech hatte und Quasselstrippen, deren Telefonanschlüsse miteinander verbunden waren, ohne Punkt und Komma schwätzten, musste man sich in Geduld üben oder wie meine Großmutter über die redseligen Nachbarn lästern. Uns Kindern war es streng verboten, damals noch recht kostenintensive Telefonate zu führen.
Kleine, medizinische Wehwehchen versuchten wir selbst und manchmal auch klammheimlich, ohne Wissen eines Erwachsenen, in heilsames Wohlgefallen aufzulösen. So wie an jenem schwülen Julinachmittag, als ich mit den beiden älteren Nachbarsmädchen in unserem Hof spielte. Opa hielt mit Petra Siesta im kühlen Haus, während meine Großmutter die Küche aufräumte. Als Kind konnten mich selbst 30° C im Schatten nicht davon abhalten, mit meinen beiden Freundinnen nachlaufen zu spielen. Fast hätte ich Linda am kurzen Rockzipfel erwischt, wenn ich nur nicht auf dieses dumme Holzstück vor Papas Werkstatt getreten wäre. Mein jäher Aufschrei beendete abrupt unser Spiel und die beiden Schwestern blickten erschrocken auf meinen nackten Fuß, den jetzt ein rostiger Nagel verunzierte.
Dicke Tränen kullerten über meine von der Sonne geröteten und vom Laufen erhitzten Wangen, als mich die Geschwister zu den Stufen vor der Waschküche trugen, wo ich erschöpft auf den kühlen Stein sank. Linda hielt den lädierten Fuß fest, während Gerda mich vom vermaledeiten Folterinstrument befreite. Rasch holten sie den Gartenschlauch und befüllten ein Blechlavoir mit herrlich kaltem Brunnenwasser, steckten meinen Fuß hinein, und siehe da, der Schmerz wurde erträglicher und die Wunde hörte auf zu bluten.
Nun musste ich mit einem großen Indianerehrenwort schwören, dass ich niemandem von meinem missglückten Fakirversuch erzählen würde. Und dieses Versprechen habe ich bis zu dieser Geschichte nicht gebrochen. Dass ich es geschafft habe, nicht zu humpeln, kann ich mir nur mit meinem eisernen kindlichen Willen, denn wir wollten ja nicht ausgeschimpft werden, erklären.
Dank an Tanzim fürs stimmungsvolle Foto
© Silvia Peiker 2022-07-15