Und

Lara Moritz

von Lara Moritz

Story

Noch bist du ja hier auf Station, aber wenn es dir besser geht, Kiki, ich glaube nicht, dass es dann eine gute Idee ist, zurück zu deinen Eltern zu gehen. Die Worte der Frau vom Jugendamt überraschten mich. Nie hatte jemand das alles so ernst genommen. Gut, vielleicht habe ich es aber auch nie jemandem erzählt. Wir werden nach einer Lösung suchen, vielleicht kommst du in eine Wohngruppe oder in ein betreutes Wohnen, oder wir können dich bei Freunden oder Familie unterbringen. Ich hatte gerade das Gefühl, meinem Pfahl aus der Elefantenparabel etwas näherzukommen. Gerade hatte ich das Gefühl, dass die Dinge besser werden, aber jetzt, jetzt fühlt es sich an, als würde mich jemand an einen neuen Pfahl binden. Und immer wenn ich das Gefühl habe, die Dinge werden besser, kommt irgendein Mist dazu. Und wie soll es einem denn besser gehen, wenn jedes Mal, wenn man aufsteht, wieder der Boden weggerissen wird? Ich weiß, dass das jetzt alles viel ist, aber du schaffst das, Kiki. Und ich verspreche dir, dass du da nicht alleine durch musst. Dr.Schwarz versuchte wenigstens, mich ein wenig zu beruhigen. Aber auch er verstand es nicht. Er verstand einfach nicht, welchen Dominoeffekt sowas im Kopf auslöst. Das plötzlich wieder alles scheiße ist, dass man gar keinen Bock mehr auf Heilung hat, dass die Stimme wieder schreit, dass ich es einfach nicht akzeptieren kann, dass mir ja eigentlich nur geholfen werden soll. Und es fühlt sich so furchtbar falsch an, einen Schritt zu gehen, der mir guttut, wenn er gleichzeitig schlecht für meine Eltern ist. Denn das Problem ist, dass ich sie am liebsten hassen würde, während ich mich so nach ihnen sehne.

21,22,23. Ich zähle, wie oft ich das Stück Apfel kaue. Jeder Bissen, genau 23-mal gekaut. So muss es sein, so perfekt, so kontrolliert. Kiki, hör auf! Du bist hier schon dick genug geworden. Und schau, was du angerichtet hast. Deine Eltern wollen dich nicht mehr. Du kannst nur wieder geliebt werden, wenn du mir folgst. Hör auf! Ich hatte die Stimme lange nicht mehr so laut gehört, wie heute. Ich hatte es die letzten Tage geschafft zu essen, ohne seelischen Beistand zu brauchen, ohne, dass jemand bei mir saß. Aber heute, heute ist es wieder verdammt schwer. Und es ist so furchtbar verlockend, es einfach wieder hinzuschmeißen. Ich habe heute das Gefühl, dass ich töten würde, für einen Tag fasten oder eine Stunde auf dem Laufband. Aber sowas gibt es hier nicht. Die 30 Minuten Essenszeit sind um und mein Teller wird kontrolliert. Nicht nur der Teller, auch die Unterseite des Tellers, die Servierte, das Besteck, das Glas, meine Hosentaschen und gefühlt wird auch der ganze Raum noch einmal geröntgt. Aber so etwas wie Vertrauen gibt es beim Thema Essen hier nicht, und vielleicht ist das auch besser so. Sie können das, was Sie nicht geschafft haben, heute Abend nachtrinken. Ich schreibe es Ihnen schnell auf. Soll ich mich dafür jetzt bedanken? Nachtrinken. So einen hochkalorischen, nicht wirklich gut schmeckenden Kram, unter Aufsicht einer Pflegerin, vor dem zu Bett gehen. Der Tag heute war zu viel, viel zu viel. An solchen Tage, da wünsche ich mir einfach nur, dass es vorbeigeht. Eigentlich weiß ich ja, dass es früher oder später vorbeigeht, aber dass es irgendwie Zeit braucht. Und die Zeit, die Zeit ist hier drin irgendwie zu meinem Feind geworden.

© Lara Moritz 2023-06-04

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional